Chemnitz 2025
Stadt der Garagen
Wie in vielen anderen ostdeutschen Städten prägen auch in Chemnitz zahlreiche in den Siebzigern und Achtzigern errichtete Garagen das Stadtbild. Das Projekt „#3000Garagen“ holt die hinter ihren Toren verborgenen Geschichten ans Licht.
Von Roberto Sassi
Ein zweites Wohnzimmer
Einer der wichtigsten Tage im Leben einer ostdeutschen Familie war der, an dem man nach einer Wartezeit von 7 bis 15 Jahren endlich ein Auto erhielt. Einen Trabant oder einen Wartburg zu besitzen, bedeutete sich frei bewegen zu können und eröffnete die Möglichkeit, Ausflüge zu machen oder entfernte Verwandte zu besuchen. Ein Auto war eine Errungenschaft, markierte sozialen Aufstieg: Man gehörte nun zu jenen, die es geschafft hatten. Als äußerst wertvolles Gut musste es demnach bestmöglich verwahrt werden, geschützt vor Witterungseinflüssen und anderen Gefahren, die auf der Straße drohten. Aus diesem Grund war und ist das Stadtbild von ostdeutschen Städten bis heute geprägt von kleinen Fertigteilgaragen, die meist in größere Garagenhöfe in der Nähe von Wohnvierteln zusammengefasst sind. In zweckmäßig parallel angeordneten Zeilen reiht sich hier ein Betonmodul an das nächste.In Chemnitz gibt es ungefähr 30.000 solcher Garagen. Eine gewaltige Menge, wenn man bedenkt, dass die Stadt heute 251.000 Einwohner*innen zählt und Autos kein Luxus mehr sind. Zu DDR-Zeiten war die Garage eine Erweiterung des Wohnzimmers, ein privater Raum abseits der Augen des Regimes, in den man sich für ein paar Stunden am Tag zurückziehen konnte. Die Pflege und Wartung des Autos war dabei eine wichtige, aber bestimmt nicht die einzige Beschäftigung. In der Garage wurden alte Dinge repariert und neue gebastelt, Hobbys gepflegt und gemeinsame Stunden mit Freund*innen und Verwandten verbracht. Dieser Mikrokosmos hielt auch den politischen und sozialen Umwälzungen der neunziger Jahre stand und ist noch heute ein wesentlicher Bestandteil der lokalen urbanen Kultur. Tatsächlich finden sich im Internet und in Zeitungen nicht selten Suchanzeigen betreffend Mietgaragen.
Auf meinen Spaziergängen durch weniger zentral gelegene Stadtviertel stoße ich immer wieder auf diese Orte, die von außen betrachtet anonym wirken, aber voller Geschichten stecken. Als unaufdringliche Wahrzeichen der Stadt zeugen sie von der Kreativität ihrer Bewohner*innen. Um mehr über sie zu erfahren, lasse ich mich ein weiteres Mal vom Programm von Chemnitz 2025 leiten, zu dem auch das Projekt #3000Garagen gehört.
3 x 6 x 2,80
Der Garagen-Campus ist, anders als der Name vermuten lässt, ein ehemaliges Straßenbahndepot. Das Gelände befindet sich südwestlich vom Zentrum im Stadtteil Kappel und ist so groß wie fünf Fußballfelder zusammengenommen. In einer der sieben vor Kurzem sanierten Hallen ist eine Ausstellung der Fotografin Maria Sturm zu sehen, die für das Projekt 164 Garagenbesitzer*innen porträtiert hat. In Begleitung von Agnieszka Kubicka‑Dzieduszycka, der Kuratorin von #3000Garagen, gehe ich durch die Ausstellung, betrachte die unterschiedlichen Gesichter, lese Namen. Manche Fotos verraten eine Leidenschaft für Motorräder oder Heimwerkerei, andere lassen auf eine kreative Ader schließen. Im Hintergrund sind enge Garagen mit den üblichen Abmessungen zu sehen: 3 Meter breit, 6 Meter tief und 2,8 Meter hoch. Die Gesichter unterschiedlichen Alters und die zugehörigen Namen zeichnen in gewisser Weise ein Bild der Stadt Chemnitz damals und heute: Mehr als Drittel der Bevölkerung ist über 60 Jahre alt und ungefähr 15% haben nicht die deutsche Staatsbürgerschaft.
„Am Anfang war es nicht einfach, den Wert von Garagen als ‚lebendige Archive‘ zu vermitteln und deren Besitzer*innen davon zu überzeugen, ihre Tore für uns zu öffnen“, erzählt Kubicka‑Dzieduszycka. „Aber nachdem das Misstrauen überwunden war, entwickelte sich ein freundschaftliches Verhältnis und man half zusammen.“ Viele Einwohner*innen von Chemnitz haben die Bedeutung des Projekts erkannt. Dazu gehören auch jene, die ihre Garagen im Rahmen des Garagen-Festivals Anfang Juni für die Blicke neugieriger Passant*innen öffnen. In dem Wohnviertel, in dem das Festival stattfindet, reihen sich ungefähr 1.000 Garagen aneinander. Auf dem Grünstreifen zwischen zwei Garagenreihen poliert ein Mann um die siebzig sorgfältig sein Motorrad. Wenige Meter weiter spielen zwei Zehnjährige unter dem amüsierten Blick ihrer Mutter auf einem Campingtisch Schach. Ich beobachte sie, wie sie ihre Züge ausführen, und denke daran, was Emma Kirmse wenige Stunden zuvor erzählt hat. Die zwanzigjährige Studentin wirkt bei vielen Projekten von Chemnitz 2025 mit. Auf meine Frage, warum sie im Gegensatz zu vielen Gleichaltrigen beschlossen hat zu bleiben, meinte sie: „In Chemnitz gibt es viele Räume für junge Menschen, Chemnitz ist eine Stadt der Möglichkeiten.“
Ich beobachte die Kinder eine Weile bei ihrem Schachspiel, während auf der Festivalbühne eine Swing-Band spielt und die Sonne hinter den geordneten Reihen der Garagen untergeht. Ich denke mir, dass sich diese Möglichkeiten, von denen Emma gesprochen hat, sicherlich in den zu Kreativzentren umfunktionierten alten Fabriken, in Kulturstätten wie dem Club Atomino oder an der Universität eröffnen, aber wohl ebenso in diesen unscheinbaren, über die ganze Stadt verstreuten Rückzugsorten, die so gar nichts Modernes an sich haben.
„Am Anfang war es nicht einfach, den Wert von Garagen als ‚lebendige Archive‘ zu vermitteln und deren Besitzer*innen davon zu überzeugen, ihre Tore für uns zu öffnen“, erzählt Kubicka‑Dzieduszycka. „Aber nachdem das Misstrauen überwunden war, entwickelte sich ein freundschaftliches Verhältnis und man half zusammen.“ Viele Einwohner*innen von Chemnitz haben die Bedeutung des Projekts erkannt. Dazu gehören auch jene, die ihre Garagen im Rahmen des Garagen-Festivals Anfang Juni für die Blicke neugieriger Passant*innen öffnen. In dem Wohnviertel, in dem das Festival stattfindet, reihen sich ungefähr 1.000 Garagen aneinander. Auf dem Grünstreifen zwischen zwei Garagenreihen poliert ein Mann um die siebzig sorgfältig sein Motorrad. Wenige Meter weiter spielen zwei Zehnjährige unter dem amüsierten Blick ihrer Mutter auf einem Campingtisch Schach. Ich beobachte sie, wie sie ihre Züge ausführen, und denke daran, was Emma Kirmse wenige Stunden zuvor erzählt hat. Die zwanzigjährige Studentin wirkt bei vielen Projekten von Chemnitz 2025 mit. Auf meine Frage, warum sie im Gegensatz zu vielen Gleichaltrigen beschlossen hat zu bleiben, meinte sie: „In Chemnitz gibt es viele Räume für junge Menschen, Chemnitz ist eine Stadt der Möglichkeiten.“
Ich beobachte die Kinder eine Weile bei ihrem Schachspiel, während auf der Festivalbühne eine Swing-Band spielt und die Sonne hinter den geordneten Reihen der Garagen untergeht. Ich denke mir, dass sich diese Möglichkeiten, von denen Emma gesprochen hat, sicherlich in den zu Kreativzentren umfunktionierten alten Fabriken, in Kulturstätten wie dem Club Atomino oder an der Universität eröffnen, aber wohl ebenso in diesen unscheinbaren, über die ganze Stadt verstreuten Rückzugsorten, die so gar nichts Modernes an sich haben.
[Fortsetzung folgt …]
Eine Zusammenarbeit mit CHEMNITZ. ZWICKAU. REGION.
Die Kulturhauptstadt Europas Chemnitz 2025 ist das Herz der Region Chemnitz Zwickau. Ein reiches gemeinsames Kultur- und Industrieerbe verbindet Menschen und Orte. Das Kulturhauptstadtjahr ist eine Einladung zu einer vielfältigen Entdeckungsreise in den Osten Deutschlands: „C the Unseen“.