Chemnitz 2025
Chemnitz hören

Drei skulpturale Figuren aus runden und zylindrischen Metallteilen stehen in einer Reihe auf einem gepflasterten Platz im Freien. Die mittlere Figur trägt ein rotes Oberteil und blaue Hosen, während die äußeren Figuren schwarze Beine haben
Dj-Set nel cortiletto dell’Atomino | Foto: Roberto Sassi © Goethe-Institut Italien

Im letzten Artikel unserer Serie zu Chemnitz 2025 erkundet unser Autor die lebendige Musikszene der Kulturhauptstadt.

Von Roberto Sassi

Von Punk bis Hip Hop


Der Backsteinturm des Wirkbaus trägt auf allen vier Seiten eine goldfarbene Uhr. Hoch ragt er zwischen den umstehenden imposanten Gebäuden hervor, in denen einst Wirkmaschinen für die Textilindustrie hergestellt wurden. Das ehemalige Fabrikareal südlich des Zentrums ist ein anschauliches Zeugnis der urbanen Revitalisierung von Chemnitz. Der im ausgehenden 19. Jahrhundert errichtete und in den 1920er Jahren erweiterte Gebäudekomplex ist heute eine der wichtigsten Kulturstätten der Stadt.

Ich bin hier erneut mit Jan Kummer verabredet, der das Areal gut kennt. Denn in einer dieser alten Industriehallen ist der berühmte Club Atomino untergebracht, den Kummer mitbegründet hat. Gemeinsam besuchen wir die an diesem Spätnachmittag noch halbverlassene Konzerthalle, dann setzen wir uns in einen kleinen Hinterhof direkt neben der Eisenbahn.

„In der zweiten Hälfte der Achtziger gelang es uns dank der Verbesserung des politischen Klimas und unserem autodidaktischen Zugang, Räume zu finden, in denen wir uns musikalisch ausprobieren konnten“, erinnert sich Kummer. „Die Menschen hatten Lust auf Musik, die vom Regime nicht gutgeheißen wurde, wie Punk und Elektropop. Was uns umtrieb, war der Drang, in diesem geschlossenen Land etwas Verbotenes zu tun.“ Dann kam der Mauerfall, die DDR brach zusammen und aus zwei Staaten wurde erneut ein gemeinsames Deutschland. In den Neunzigern lebte Kummer seine Leidenschaft für die Musik zunächst mit der Eröffnung eines Plattenladens aus, der sich bald zu einem Treffpunkt für Musikfans entwickelte. Schließlich gründete er 1999 den Club Atomino, der zahlreichen bedeutenden musikalischen Künstler*innen wie Kraftklub, Blond und Trettmann als Sprungbrett für ihre Karriere diente. „Dabei ist das Atomino mehr als eine Konzerthalle, wir organisieren auch Ausstellungen und Kulturevents. Es ist ein Brücke zwischen den Generationen“, erklärt Kummer, der unter anderem auch Bingo-Abende organisiert, die von allen Altersgruppen besucht werden.

Auch Ronny Schindler alias DJ Ron war häufig im Atomino zu Gast. Ich treffe ihn an einem Sonntagvormittag in einem Café im Stadtzentrum, um mit ihm über sein Fachgebiet zu sprechen: Hip-Hop in Chemnitz. Schindler, Jahrgang 1977, kam in den neunziger Jahren als Jugendlicher zum ersten Mal mit dem Genre in Berührung und ist ihm seither treu geblieben. Im Laufe der Zeit hat er sich in ganz Deutschland einen Namen gemacht. „Damals war das eine kleine Subkultur, nur wenige Leute machten Hip-Hop und Instrumente waren nur rudimentär vorhanden. Wir mussten uns alles selbst beibringen und unterstützten uns gegenseitig.“ Wie Kummer betont auch er den autodidaktischen Zugang der lokalen Kunst- und Musikszene.

In gewisser Hinsicht ist das auch genau der Geist, in dem 1998 das Splash! ins Leben gerufen wurde, das mittlerweile größte Hip-Hop-Festival Deutschlands, bei dem DJ Ron seit den ersten Ausgaben in Chemnitz mitwirkt. (Seit 2009 findet das Splash! übrigens in Ferropolis, einem Industriemuseum unter freiem Himmel etwa sechzig Kilometer nördlich von Leipzig statt.) Die Veranstaltung zeigt anschaulich den Aufstieg des Hip-Hop in Deutschland. „Im ersten Jahr kamen 1.300 Leute, heute sind es über 30.000“, erzählt Schindler nicht ohne Stolz. Ich frage ihn, warum er beschlossen hat, zu bleiben, statt sein Glück in Berlin oder einer anderen Großstadt zu versuchen. Seine Antwort: „In Berlin wäre ich einer von vielen gewesen. Hier ist das anders. Hier habe ich das Gefühl, dazu beigetragen zu haben, Chemnitz und seine Menschen sichtbarer zu machen.“

Chemnitz wieder-sehen

Und so kehren wir zur Frage der Sichtbarkeit zurück, mit der diese Artikelserie begonnen hat. Sie ist ein zentrales Thema des Kulturhauptstadtjahres Chemnitz 2025, das mit seinem Motto C the Unseen dazu einlädt, das Unsichtbare zu sehen. Die Musik, die in der Stadt geschrieben wird, schöpft aus dem urbanen Kontext und lädt die Zuhörer*innen dazu ein, dasselbe zu tun. Dieser Kontext kann in vielerlei Hinsicht als problematisch angesehen werden und doch bringt er offensichtlich immer wieder neue Stimmen und Genres hervor und gilt bis heute als bedeutender Bezugspunkt für die deutsche Musikszene.

„Du solltest zum KOSMOS kommen“, hatte Jan Kummer bei unserem Treffen im Wirkbau gemeint. „Das ist ein absolut außergewöhnliches Event.“ Das Festival, das üblicherweise in der ersten Junihälfte stattfindet, wurde im September 2018 als unmittelbare Reaktion auf die Demonstrationen der Rechtsextremen Ende August ins Leben gerufen. Kummer war einer der Initiatoren des Festivals, an dem dieses Jahr ungefähr 100.000 Menschen teilnahmen. Ich war nicht dabei – aber 2026 werde ich dabei sein.

Dann, wenn nicht mehr alle Blicke auf Chemnitz gerichtet sind, es hier aber nach wie vor viel zu sehen gibt.
 

Eine Zusammenarbeit mit CHEMNITZ. ZWICKAU. REGION.

Die Kulturhauptstadt Europas Chemnitz 2025 ist das Herz der Region Chemnitz Zwickau. Ein reiches gemeinsames Kultur- und Industrieerbe verbindet Menschen und Orte. Das Kulturhauptstadtjahr ist eine Einladung zu einer vielfältigen Entdeckungsreise in den Osten Deutschlands: „C the Unseen“.

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