Das Epos von der Genossin Kuckuck
Anke Feuchtenbergers Opus magnum

Die bedeutendste Comiczeichnerin Deutschlands kommt ans Goethe-Institut Rom – im Gepäck eine Ausstellung mit den Originalzeichnungen für „Genossin Kuckuck“ (2024 in italienischer Übersetzung unter dem Titel „Compagna Cuculo“ bei Coconino Press erschienen). Das Werk führt jene Themen zusammen, die der Künstlerin am meisten am Herzen liegen: vom Verhältnis zur Natur bis zum Verhältnis zum Körper, von der Beziehung zwischen Mann und Frau bis zur Beziehung zwischen Mensch und Gewalt, und all das angesiedelt in einem fiktiven Dörfchen in Ostdeutschland.
Von Emilio Cirri
Im Kreis der zeitgenössischen europäischen Autor*innen hat kaum jemand sonst so leise, aber nachdrücklich seinen Einfluss ausgeübt wie Anke Feuchtenberger auf die Art, wie Comics gemacht und gedacht werden. Geboren 1963 in Ostberlin, schult sie sich an den Bildern von Käthe Kollwitz, der Bildhauerkunst der italienischen Renaissance, den Animationen von Jiří Trnka, dem deutschen Expressionismus und den Comic-Vorläufern von Rodolphe Töpffer. Nach ersten Arbeiten für das Theater kommt sie an der Wende zum Jahr 1989, kurz vor dem Mauerfall, mit der Welt des Comics in Berührung und gründet gemeinsam mit anderen Künstler*innen, Grafiker*innen und Comiczeichner*innen das Kollektiv PGH Glühende Zukunft, mit dem sie in den 90er Jahren eine regelrechte Revolution des deutschen Comics in Gang setzt. Im Laufe einer fast vierzigjährigen Karriere wird die Künstlerin ihren Stil und ihre Erzählweise ausbilden, verändern, dekonstruieren und neu konstruieren. Mit jeder Arbeit entwickelt sie sich weiter und erweitert die Ausdrucksmöglichkeiten des Comics.
Genossin Kuckuck: ein (nicht-)autobiographisches Werk
Nach den großformatigen Bänden Grano Blu und Der Spalt (italienisch: La Fessura), beide erschienen bei Canicola, sowie ihrem in Auszügen bei Sigaretten publizierten bekanntesten Werk Die Hure H (Text von Katrin de Vries, italienisch: La Puttana P) veröffentlichte Coconino 2024 Genossin Kuckuck in der Übersetzung Compagna Cuculo. Das Werk ist in mehr als zehnjähriger Arbeit entstanden und spiegelt die Summe des bisherigen Weges der Künstlerin wider. Erzählt wird von einem (fiktiven) ostdeutschen Dorf, von den dort lebenden Familien und insbesondere von zwei Freundinnen, Kerstin und Effi, in einer Phase, die vom glühenden Festhalten am Realsozialismus bis zu dessen bevorstehender Auflösung reicht.So wie und mehr als in ihren anderen Werken schafft Feuchtenberger eine Geschichte voller Symbolik und Metaphorik, in der autobiographische Elemente und Erzählungen, die sie in ihrer Kindheit und Jugend gehört hat, ineinanderfließen. Daraus konstruiert sie eine Coming-of-Age-Geschichte über zwei junge Mädchen (sui generis) und den Wandel, der sich um diese herum vollzieht – und lässt damit eine historische Epoche wiedererstehen, die eine sehr intensive, schwer zu analysierende kollektive Erfahrung gewesen ist. Feuchtenberger nutzt mit suggestiven Bildern aufgeladene Episoden, um die widersprüchlichen und verdrängten Aspekte der DDR-Erfahrung ans Licht zu bringen. Auf Grundlage dessen verabsäumt sie es auch nicht, an immer wiederkehrende Themen ihrer Arbeit anzuknüpfen: die gesellschaftliche Rolle der Frau und der Wert des weiblichen Körpers (sowohl unter einem klassisch organischen als auch unter einem sozialen Gesichtspunkt, die im Aufruf zur Mutterschaft zusammenlaufen), aber auch das Verhältnis zwischen Mann und Frau sowie des Einzelnen zu Familie und Freunden, stets im Spannungsfeld von gesellschaftlichen Konventionen und deren Übertretung.
Zwischen Gewalt und lieben Erinnerungen
Als roter Faden dient eine umfassende metaphorische Reflexion über die Frage der Gewalt: von der institutionellen Gewalt (Beziehungen zur Sowjetunion) über die körperliche Gewalt von Männern gegenüber Frauen und die Gewalt der Sticheleien und kleinen Eifersüchteleien unter Freundinnen bis hin zur Gewalt gegenüber der Natur – sie erscheint unausrottbar, generationenübergreifend, mit gesellschaftlichen Konventionen verschmolzen und vor allem, aber nicht nur, gegen Frauen gerichtet.Genossin Kuckuck ist für die Autorin aber auch ein Medium, um über Sinn und Wert der Erinnerung nachzudenken, als Werkzeug, das dabei hilft, zu begreifen, wer man war, ist und sein will: Feuchtenberger liest ihre eigenen Erfahrungen neu und rekonstruiert die Vergangenheit anhand einer zeitlosen Vision, die zwischen Märchen und luzidem Albtraum, zwischen sozialistischem und magischem Realismus in der Schwebe bleibt. Darin fügt sich auch die andauernde Suche nach der Verbindung zwischen Mensch und Natur ein: Letztere wird in Details ausgemalt, die ihre Schönheit und urtümliche Ruhe überhöhen, bis übernatürliche Gestalten, abstoßend und faszinierend zugleich, in sie eindringen und die Atmosphäre der Erzählung ins Gegenteil umschlägt, um dann wieder zu sanfteren Tönen zurückzukehren, getragen von einer Zärtlichkeit, die nicht wehmütig ist, sondern liebevoll wie die Umarmung einer Mutter für ihr Kind. In einer ständigen Verwandlung zwischen Mensch und Tier wird im Idealfall die Barriere zwischen den Arten, zwischen Menschengemachtem und Natürlichem niedergerissen. Feuchtenbergers Erzählung, die elliptisch und nichtlinear voranschreitet, erwächst zuallererst aus der Zeichnung, deren Stil sich in diesem Band fast kapitelweise ändert: Nach der Feder greift sie zum Blei- oder Kohlestift; auf Seiten, wo Weiß das Schwarz überwiegt, folgen andere, auf denen die Figuren aus dem Dunkel auftauchen; Passagen, die extrem realistisch, reich an Volumen und Details ausgeführt sind, wechseln sich ab mit anderen, in denen der Strich wirkungsvoll stilisiert ist.
Genossin Kuckuck erzählt nicht nur eine Geschichte, sondern eine Vielzahl von Geschichten, und öffnet damit ein Fenster zu den zahllosen Welten, die Anke Feuchtenberger, Meisterin des europäischen Comics, in vierzig Jahren künstlerischer Betätigung erschaffen hat.