Rezension
Zwei Stunden Normalität

Premiere "Tanjas Geburtstag"
Premiere "Tanjas Geburtstag" | Foto: Kaspars Garda © Goethe-Institut Riga

Die Theateraufführung “Tanjas Geburtstag“ des Ģertrūdes ielas teātris – Erzählungen von Lettland im 20. Jahrhundert.

Einer der besten Momente der Aufführung dreht sich um Kartoffelsalat. Der Regisseur Mārtiņš Eihe fragt: „Was ist das Originalrezept für den Kartoffelsalat „Rasols“? Was ist die seltsamste Variation?“ An unserem Tisch sagt jemand: „Mit Hering.“ „Mit Neunaugen!”, wirft jemand ein. „Es gibt Leute, die machen ihn ohne Zwiebeln“, sagt einer der Schauspieler. Und ich habe das Gefühl, dass Hering und Neunaugen überhaupt nicht seltsam sind (in meiner Familie geben wir sie zwar nicht an den Salat, aber das Rezept kenne ich), aber Zwiebeln… Ein kleiner, lustiger Moment, doch gleichzeitig persönlich und lebendig. „Tanjas Geburtstag“ ist lustig, ein wenig chaotisch, erfrischend leicht, und das, obwohl es ein wichtiger Beitrag zum Diskurs darüber ist, wie wir uns an Lettland im 20. Jahrhundert erinnern und wie wir derzeit leben.

Wenn man die interaktive Aufführung einem Genre zuordnen müsste, könnte man sie als Erinnerungsabend bezeichnen. Die Zuschauer werden im Ģertrūdes ielas teātris an einem riesigen, u-förmigen, gedeckten Tisch empfangen, wie zu einer großen Familienfeier. Aufgedeckt sind eine Unmenge von Leckereien: Käsehäppchen, Speckpiroggen, Blechkuchen, Sardinenschnittchen… Es gibt Wein und Kartoffelsalat und alle Anwesenden lassen es sich schmecken. Natürlich wird der eine oder andere Toast ausgebracht und die improvisierten Familienmitglieder (in deren Rollen der Regisseur Mārtiņš Eihe und die Schauspieler Jana Ļisova, Artūrs Čukurs und Jānis Kronis schlüpfen) erzählen Geschichten aus der Familienfolklore, streiten sich ein wenig, versöhnen sich wieder, singen und tanzen. „Tanjas Geburtstag“ gibt einem wirklich das Gefühl, auf einer Feier zu sein, nicht im Theater. Jeder in Lettland hat schon einmal an einem solchen Tisch gesessen, jeder kann anhand des Dufts sagen, ob die Piroggen gut sind, und auch die Geschichten kommen einem bekannt vor. Vom Leben in der Sowjetunion, den Deportationen, den Rechten der staatenlosen Nichtbürger… Nur hin und wieder hört man etwas, das einem nicht bekannt vorkommt (z.B. die anrührenden Briefe eines sowjetischen Offiziers an seine Frau von der Front im Zweiten Weltkrieg). Die Intonation der Aufführung ist warmherzig und persönlich. Denn es reden hier ja schließlich die Mitglieder einer Familie miteinander.

Die Erzählungen, welche Laila Burāne für das Theaterstück dramaturgisch arrangiert hat, sind Erzählungen realer Personen. Sie kommen aus der „Memory-Dropbox“, die im Rahmen des Projekts „Deine Erinnerungen für die Zukunft Lettlands“ vom Goethe-Institut und der Žanis Lipke Gedenkstätte aufgestellt worden waren, um eingereichte Erinnerungen der Menschen in Lettland zu sammeln. Das Projekt richtete sich vor allem an Jugendliche, also an die Generation, welche das 20. Jahrhundert a priori nur aus den Erzählungen ihrer Eltern und Großeltern kennt. (Das ist wichtig, denn es akzentuiert etwas, das wir gern vergessen, nämlich dass Erinnerungen keine objektive Fixierung des Geschehenen sind, sondern subjektive Interpretationen, Erzählungen.)

Aus den Werbematerialien schließe ich, dass die Theateraufführung als eine Art Lehrstück angedacht ist. Das ist meiner Meinung nach eine potentielle Schwachstelle der Inszenierung, denn das kreative Team hat die Erinnerungen stark bearbeitet. Die Aufführung ist voller Euphemismen, Ironie und Leerstellen. Wie bei einem Festessen üblich wird keine chronologisch ablaufende Geschichte erzählt, sondern die Erzählung springt von Anekdoten zu spontanen Anmerkungen zum Privatleben, weiter zu politischen Ansprachen oder historischen Erklärungen und wieder zurück. „Tanjas Geburtstag“ ist ein technisch fein ausgearbeitetes und künstlerisch einflussreiches Werk, das zweifelsohne von allen verstanden wird, die sich gut mit der Geschichte Lettlands im 20. Jahrhundert auskennen. Wenn man allerdings Lücken in seinem Geschichtswissen hat… (so findet ein Teil der Aufführung z.B. auf Russisch statt, was viele Jugendliche in Lettland nicht verstehen.)

Außerdem ist es während der Aufführung äußerst wichtig, sich mitreißen zu lassen und nicht krampfhaft alle Informationsbrocken zu inventarisieren. Denn die Inszenierung wird sehr persönlich: während man fremden Leuten zuhört, denkt man unwillkürlich an seine eigenen Erfahrungen und die eigene Familie. Daran, wie ähnlich (oder manchmal auch unterschiedlich) ihre Erzählungen sind.

Vermutlich kann der Zuschauer nicht allem zustimmen, was in der Aufführung erzählt wird. Vermutlich stimmen verschiedene Zuschauer unterschiedlichen Aussagen nicht zu. (Die Aufführung provoziert auch bewusst, z.B. indem sie auf die „lettisch-russische“ Frage anspielt.) Und doch ist „Tanjas Geburtstag“ ansprechend durch dieses, ja, utopische und doch schöne Gefühl, dass gegenseitiges Verständnis möglich ist, dass der Tisch (die Gesellschaft, das Volk, der Staat) diejenigen vereint, die an ihm sitzen. Und das, obwohl im Alltag im öffentlichen Raum Hass und die Verschärfung von Widersprüchen im Namen egoistischer Interessen dominieren. Eihes Inszenierung bietet zwei Stunden Normalität, einen Ort, an dem die Mitglieder einer Gesellschaft einander nicht als Feinde betrachten, und dafür bin ich persönlich dem Theaterteam sehr dankbar. Für das Gefühl, dass nicht alle in Lettland vor Hass verrückt geworden sind. Auch dafür, dass die Inszenierung zeigt, dass man nicht unbedingt leiden muss, um über ersthafte, komplizierte und schmerzhafte Dinge nachzudenken.

Und zuletzt bin ich auch dankbar für die Intelligenz der Inszenierung, die manchmal unvereinbar widersprüchlichen Erinnerungen der Einwohner Lettlands auf diese Art nebeneinander zu stellen. Der Vergleich hinkt zwar zwangsläufig, doch Erinnerungen haben viel mit Kartoffelsalat gemeinsam: Was jede Familie nun einmal so im Kühlschrank hat, kommt in die Schüssel. Doch die Nachbarn haben ein ganz anderes Rezept…