Corona-Virus
Gesundheitsschutz mit Nebenwirkungen

Über den Sinn und die Rechtmäßigkeit der Einschränkungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie wird nach wie vor gestritten.
Über den Sinn und die Rechtmäßigkeit der Einschränkungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie wird nach wie vor gestritten. | Foto (Detail): © picture alliance/AA/Abdulhamid Hosbas

Die andauernden Diskussionen, ob die Beschränkungen während der Corona-Krise gerechtfertigt waren, zeigen die Schwächen der biopolitischen Entscheidungen von Bund und Ländern. Über die Folgen für die demokratische Gesellschaft streiten die Historiker*innen Hedwig Richter und René Schlott.

Frau Richter, Herr Schlott, die Gesellschaft in Deutschland ist gespalten: Für die einen rechtfertigt die Gefahrenabwehr in der Corona-Pandemie die weitreichenden Maßnahmen, für die anderen handelt der Staat zu restriktiv und schränkt Freiheitsrechte unangemessen ein. Eine ihrer Sorgen ist, dass die Regierenden ihre einmal erworbene Macht ungern wieder abgeben werden. Stellen die Maßnahmen zur Eindämmung des Virus daher auch eine Gefahr für die Demokratie dar?
 
René Schlott: In Deutschland sehe ich langfristig weniger eine Gefahr für die Demokratie als vielmehr ein hohes Risiko für den gesellschaftlichen Zusammenhalt – von den wirtschaftlichen Folgen einmal ganz zu schweigen. Die langfristigen Folgen der Maßnahmen wurden nicht mitbedacht und können auch nicht abgeschätzt werden. Durch den monatelangen Ausfall des Schulbetriebes und die Aufhebung der Schulpflicht, wie sie Baden-Württemberg bereits für das kommende Schuljahr angekündigt hat, wird beispielsweise eine Bildungslücke entstehen, die die Ungerechtigkeit qua Herkunft im deutschen Bildungssystem noch einmal verstärkt. Diese Krise legt außerdem die soziale Spaltung des Landes in aller Brutalität offen. Wir sehen es am aktuellen Ausbruchsgeschehen, das sich auf soziale Brennpunkte und prekäre Arbeits- und Wohnverhältnisse konzentriert. Wir errichten Bauzäune um die Quartiere und sperren die Menschen ein. Das vertieft die gesellschaftliche Spaltung. 
 
Hedwig Richter: Ich sehe keine gespaltene Gesellschaft. Im Gegenteil. Eine große Mehrheit stand laut Umfragen in den Zeiten der strengsten Maßregeln zum Schutz der Gesellschaft vor der Pandemie hinter der Regierung. Als die Lockerungen begannen, sank zeitgleich die Bereitschaft zu strengen Maßnahmen. Und nun ist immer noch eine Mehrheit eher für als gegen die bestehenden Beschränkungen. Es sind Minderheiten, die in der Handlung der Regierungen einen unrechtmäßigen Machterwerb sehen. Insgesamt nehmen die Menschen die Krisensituation ernst und verhalten sich vernünftig. Die Logik ist doch bestechend:  Aufgrund der Gefahr, die ich für andere Menschen potentiell darstelle, muss ich meine eigene Freiheit einschränken – und der Staat steht in der Pflicht, das einzufordern. Ich teile hier also die Mehrheitsmeinung. Es gibt keinerlei Anhaltspunkte, dass sich etwa die Bundesregierung zusätzliche Machtbefugnisse erschleichen will. Von daher denke ich nicht, dass die Pandemie eine Gefahr für die Demokratie bedeutet. Unsere Demokratie hat sich sogar als besonders effektiv erwiesen, weil es der Politik alles in allem gelungen ist, die Bevölkerung zu überzeugen und mitzunehmen. Prof. Dr. Hedwig Richter wurde 2019 auf die Professur für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität der Bundeswehr München berufen. Sie studierte Geschichte, Germanistik und Philosophie an der Universität Heidelberg, der Queen’s University Belfast und der Freien Universität Berlin. Prof. Dr. Hedwig Richter wurde 2019 auf die Professur für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität der Bundeswehr München berufen. Sie studierte Geschichte, Germanistik und Philosophie an der Universität Heidelberg, der Queen’s University Belfast und der Freien Universität Berlin. | Foto Detail : © privat Der Parlamentarismus mag ja funktionieren. Doch wie steht es um die Zivilgesellschaft: Junge Leute wehren sich gegen die Bevormundung, Bürger gegen eine auferlegte Quarantäne. Geht der Staat hier nicht zu weit?
 
Hedwig Richter: Umfragen haben eher gezeigt, dass junge Leute in hohem Maße bereit sind, sich aus Solidarität an die Maßnahmen zu halten. Einige Umfragen zeigen, dass sie dazu sogar in einem noch stärkeren Maße bereit sind als ältere Menschen. Wird hier nicht deutlich, dass die Sorge um die Demokratie eine etwas künstliche Diskussion ist, mit zuweilen sehr wenig stichhaltigen Argumenten? 
 
René Schlott: Irrtum! Das Infektionsschutzgesetz, das bis zum März kaum jemand kannte, hat sich als Sicherheitslücke unserer Demokratie erwiesen. Das Parlament hat viele Rechte an die Exekutive abgegeben und das gilt noch immer, obwohl die Katastrophe ausgeblieben ist. Wir hatten für einige Wochen das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit komplett außer Kraft gesetzt. Das ist ein gravierender Grundrechtseingriff, zu dem noch andere hinzukamen. Einige sind inzwischen von Gerichten korrigiert worden, weil sich einige Bürger*innen dagegen gewehrt haben. Es gab starke staatliche Eingriffe in die Religionsfreiheit, in die Gewerbefreiheit, in die Freiheit von Kunst und Wissenschaft. Das Recht auf Freizügigkeit im Bundesgebiet war zeitweise obsolet. Es gab exekutive Exzesse, wie das Schließen der Spielplätze und das bayerische Verbot, ein Buch auf einer Parkbank zu lesen, Einschränkungen der Reisefreiheit und des Grundrechtes auf Asyl. In den letzten Wochen ist Vertrauen in den Staat und seine Institutionen verloren gegangen, weil die Grundrechtseinschränkungen – die massivsten in den letzten siebzig Jahren – lediglich auf Verordnungen der Länder beruhten, die zunächst nicht einmal zeitlich befristet waren und bei denen nicht klar war, welches konkrete Ziel damit erreicht werden sollte.Hedwig Richter: Offenbar haben aber doch die meisten Menschen verstanden, dass sich die Handlungsoptionen der Regierung immer wieder verändert haben, weil das Wissen über Covid-19 zunächst sehr gering war und nur schrittweise deutlich wurde, was das Problem ist. Warum sind die Zustimmungsraten so hoch, wenn es so viel Vertrauensverlust gibt? Die CDU, die mit den Maßnahmen identifiziert wird, hat so hohe Zustimmungswerte wie seit langem nicht mehr. Die AfD aber, die am ehesten die Maßnahmen kritisiert, steht besonders schlecht da. Und was die Versammlungsfreiheit betrifft: Die ist doch in Zeiten des Internets längst nicht so beschnitten wie früher noch. 
 
René Schlott: Das Internet kann die Demonstration auf der Straße nicht ersetzen, wie die letzten Wochen gezeigt haben. Dr. René Schlott studierte Geschichte, Politik und Publizistik in Berlin und Genf. Er wurde 2011 an der Universität Gießen in Neuerer Geschichte promoviert, arbeitete in verschiedenen Forschungsprojekten in Berlin, Gießen und Potsdam und hatte Lehraufträge an den dortigen Universitäten. Er ist Initiator der Initiative „Grundgesetz a casa“, bei der Bürger*innen eingeladen sind, zu Hause Artikel aus dem Grundgesetz zu lesen. Dr. René Schlott studierte Geschichte, Politik und Publizistik in Berlin und Genf. Er wurde 2011 an der Universität Gießen in Neuerer Geschichte promoviert, arbeitete in verschiedenen Forschungsprojekten in Berlin, Gießen und Potsdam und hatte Lehraufträge an den dortigen Universitäten. Er ist Initiator der Initiative „Grundgesetz a casa“, bei der Bürger*innen eingeladen sind, zu Hause Artikel aus dem Grundgesetz zu lesen. | Foto (Detail): © Angela Anker Braucht Deutschland dann vielleicht so etwas wie einen Biopolitik-Rat, der die Interessen der Generationen hinsichtlich des Lebensschutzes austariert?
 
Hedwig Richter: Bis jetzt scheinen mir die vorhandenen Institutionen gut zu funktionieren. 
 
René Schlott: Das stimmt. Wir haben genügend Kompetenz. Es braucht aber ein stärkeres Austarieren der Interessen. Die Politik darf sich nicht einem Einzelinteresse unterordnen, selbst wenn es die Gesundheit der Menschen ist. Wir haben ja in Kauf genommen, dass die Gesundheit anderer Menschen zugunsten der Pandemie-Bekämpfung gefährdet wird, weil Menschen mit anderen Erkrankungen nicht behandelt worden sind oder in die Einsamkeit getrieben wurden.
 
Die Corona-Beschränkungen haben das Verhalten vieler Menschen verändert. Es gibt mehr Solidarität und eine Rückbesinnung auf Familie und Freunde. Auch die auf Effizienz und Globalisierung getrimmte Wirtschaft wird hinterfragt. Liegt hierin nicht eine Chance für die Gesellschaft?
 
René Schlott: Diese Frage erstaunt mich. Ich kann nicht erkennen, dass es eine starke Rückbesinnung auf Familie und Freunde gab. Was ich zuerst bemerkt habe, waren völlig unsolidarische Hamsterkäufe. Es gab sogar den Aufruf staatlicher Organe zum Denunziantentum, also zu melden, wenn der Nachbar gegen die Auflagen verstößt. Das ist beängstigend. Auch in Bezug auf die Wirtschaft kann ich keinen positiven Lerneffekt erkennen. Der Staat fördert zwar mit vielen Milliarden die Wirtschaft. Ich sehe aber nicht, dass es den Willen gibt, das System umzubauen und gerechter zu machen. Allen Pfleger*innen wurde eine Bonuszahlung von 1.500 Euro versprochen. Die ist bis heute längst nicht an alle ausgezahlt worden.
 
Hedwig Richter: Ich denke, dass Menschen immer aus der Geschichte lernen können – und oft haben sie das auch getan. Man sieht das nach Kriegen und nach schweren Krisen. Nach dem Zweiten Weltkrieg etwa haben die Menschen systematisch internationale Institutionen aufgebaut, um Kriege zu verhindern. Aus der Pandemie werden wir bestimmt lernen, wie wir uns das nächste Mal besser schützen und schneller reagieren können. Einen echten Knackpunkt sehe ich in der Geschlechterfrage. Die ist doch viel offensichtlicher als ein angebliches Demokratieproblem: Dass Frauen die Care-Arbeit zu leisten haben, dass sie nun viel weniger ihrer Erwerbsarbeit nachgehen und vieles mehr – all das müssen wir das nächste Mal besser hinkriegen.
 
In der Pandemie folgt die Politik dem Rat der Wissenschaft. Das wäre in anderen Bereichen wie dem Klimawandel auch wünschenswert. Zugleich ist damit das Risiko verbunden, dass demokratische Willensbildungsprozesse durch den Verweis auf alternativlose Erkenntnisse der Experten unterbunden werden. Brauchen wir mehr oder weniger fachliche Expertise in der Politik?
 
Hedwig Richter: Politik und Wissenschaft sind in modernen Gesellschaften zwei Systembereiche mit unterschiedlichen Logiken. Dieses Prinzip gilt, soweit ich sehe, sowohl für die Pandemie als auch für die Klimakrise. Beide Bereiche agieren nicht autonom, sondern sind aufeinander angewiesen, aber es kann und sollte keine Eins-zu-Eins-Übertragung von der Wissenschaft in die Politik geben, und auch nicht umgekehrt. Für unsere Demokratie bedeutet das: Politiker*innen müssen austarieren, wie viel sie der Bevölkerung zumuten können, und welche Lasten die anderen Funktionsbereiche wie etwa die Wirtschaft, die Familien oder das Gesundheitssystem tragen können. Dabei machen sie hinsichtlich wissenschaftlicher Ratschläge durchaus auch mal Kompromisse. Eine vermeintlich alternativlose, rein auf die Wissenschaft fixierte Politik kann es schon deswegen nicht geben, weil die Wissenschaft selbst keine alternativlosen Konzepte hat, sondern in vielen Bereichen konkurrierende Ansichten – und sich zudem immer mal wieder selbst korrigieren muss.
 
René Schlott: Da sind wir uns einig. Politik sollte selbstverständlich auf Wissenschaft hören. Aber Wissenschaftler*innen haben meist nur ihr eigenes Fachgebiet im Blick. Christian Drosten mag ein hervorragender Virologe sein, aber er ist kein Experte für gesellschaftlichen Zusammenhalt. Entscheidungen sind Sache der Politik und ihrer Institutionen, die möglichst viele wissenschaftliche Erkenntnisse darin einbeziehen müssen. Es gibt keine alternativlosen Entscheidungen in einer offenen Gesellschaft.
 
Was sollte die demokratische Gesellschaft aus dem bisherigen Verlauf der Krise lernen?
 
René Schlott: Wir sollten lernen, dass keine Krise derartig große Grundrechtseinschränkungen rechtfertigt. Wir dürfen nie wieder alle in den letzten Jahrhunderten mühsam erkämpften Freiheiten dem Primat der epidemiologischen Kurve unterordnen und Freiheit gegen Gesundheit ausspielen.
 
Hedwig Richter: Wenn der Verlauf nicht noch eine völlig unerwartete Richtung nimmt und die Wirtschaft nicht erneut stark eingeschränkt werden muss, sehe ich vor allem eine positive Lehre: Wir können aufhören, von der Krise der Demokratie zu reden. Denn selbst diese hochkomplizierte Krise, die an die Grundrechte der Menschen rühren musste, hat unsere Demokratie gemeistert und unsere Gesellschaft nicht gespalten. Was den Kapitalismus betrifft, so gibt es ja auch die nicht ganz unbegründete Ansicht, dass es einen Zusammenhang zwischen einer starken sozialen Marktwirtschaft, die immer kapitalistische Elemente birgt, und einem guten Gesundheitssystem gibt.