Fiktiver Dokumentarfilm Ökozid - Mittwochskino

Ecocidio © zero one film / Julia Terjung

Mi, 10.04.2024

19:30 Uhr

Goethe-Institut Peru

Regie: Andres Veiel 2020, Farbe, 90 min,

Ebenso leises wie spektakuläres Gerichtsdrama zur Klimakatastrophe. Im Jahr 2034 reichen 31 Staaten eine Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland ein, um Schadenersatz für die Folgen des Klimawandels zu erstreiten. Virtuos changiert ÖKOZID zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, zwischen Doku-Drama und fiktiver Dokumentation.

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Man schreibt das Jahr 2034. Die Folgen des Klimawandels sind dramatisch. Dürre und Hochwasser haben bereits die Lebensgrundlage von Millionen Menschen vernichtet, und nach der dritten Sturmflut in Folge musste der Internationale Gerichtshof im Haag provisorisch nach Berlin übersiedeln, wo die Klimakatastrophe zum Gegenstand eines Aufsehens erregenden Gerichtsverfahrens wird.

Zwei Anwältinnen (Nina Kunzendorf und Friederike Becht) vertreten die Schadensersatzklage von 31 Ländern des globalen Südens gegen die Bundesrepublik Deutschland. Es geht exemplarisch um Fragen der ökonomischen und ökologischen Verantwortung der entwickelten Nationen sowie das Recht der Natur auf Unversehrtheit. Drastischer formuliert: Es geht um die Frage, ob und wie die Weltgemeinschaft sich in die Pflicht nehmen lässt, die Lebensgrundlage von Teilen ihrer Mitglieder verlässlich zu garantieren.

Ranghohe Vertreterinnen und Vertreter aus Politik und Industrie werden als Zeugen geladen. Das Gericht muss entscheiden, ob die deutsche Politik für ihr Versagen beim Klimaschutz zur Verantwortung gezogen werden kann, was einen brisanten Präzedenzfall schaffen würde.
Die Klägerstaaten reklamieren, dass die Bundesrepublik Deutschland nicht nur über Jahrzehnte die völkerrechtliche Pflicht verletzte, einer Erhöhung der CO₂-Konzentration entgegenzuwirken, sondern zusätzlich alle europäischen Klimaschutzvorgaben nach Kräften aufgeweicht und blockiert hat. Auf der Anklagebank sitzt also die BRD der Jahre 1990 bis 2020 - verkörpert durch die 80-jährige Angela Merkel (Martina Eitner-Acheampong). Dass der Mitangeklagte Gerhard Schröder sich entschuldigen lässt, weil er in Russland zur Kur weilt, ist ein kleines Detail, welches den Humor, die kühle Rationalität und auch die Detailversessenheit dieses Science-Doku-Fiction-Spiels erahnen lässt.

Mit wenigen Strichen wird eine Rahmenhandlung angedeutet: Ein fieser Spin-Doktor fälscht während der Verhandlungstage Audio-Files und macht mit seinen perfekten Fake News in den sozialen Medien Stimmung. Vergangene Verbindungen zwischen dem Verteidiger der Bundesrepublik (Ulrich Tukur) und einer der Klagevertreterinnen werden en passant skizziert. Ebenso schwelt ein grundsätzlicher taktischer und generationeller Konflikt zwischen den beiden Anwältinnen.

Was ÖKOZID aber im Kern anstrebt, ist eine dichte Gegenwartsdiagnose, betrachtet durch ein Brennglas aus der Zukunft. Andres Veiel und seine Co-Autorin Jutta Doberstein entschlüsseln, wie auf Lobbyismus beruhende politische Entscheidungen unserer Gegenwart und jüngsten Vergangenheit der Welt ihre Zukunftschancen rauben.

Kritiken, Empfehlungen, Presseschau

„Hätte der vielfach ausgezeichnete Regisseur (u.a. Black Box BRD, Wer wenn nicht wir, Beuys) seinen wie immer akribisch recherchierten Stoff nicht vielleicht besser in einem Dokumentarfilm verarbeiten sollen, der ja ohnehin seine eigentliche Domäne ist? Nein. Denn gerade die semifiktionale Präsentation, verbunden mit einem starken Soundtrack und Einspielern von Überschwemmungen, Hurrikans, Dürren und Tiersterben sind der emotionale Türöffner für eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Thema. Keine Frage, Veiel ist entsetzt über die Verfehlungen deutscher Klimapolitik in den letzten 20 Jahren, agitatorische Klischees jedoch fährt er nie auf.“ (Badische Zeitung, 16.11.2020)

„Andres Veiel, der für seine minutiös recherchierten Dokumentarfilme berühmt wurde (Blackbox BRD, Die Spielwütigen), hat hier das Genre gewechselt und einen in der Zukunft verorteten Spielfilm gedreht. (...) Zum mutigen Kunstwerk wird dieser Film dadurch, dass die eigentlichen Hauptfiguren hier die Fakten und Argumente sind. Sie belegen, dass Deutschland seit 30 Jahren alle konsequente Umweltpolitik blockiert und aushebelt.“ (Süddeutsche Zeitung, 18.11.2020)

„Veiel inszeniert kein Tribunal ‚Gut gegen Böse‘, sondern ein rhetorisches Ringen zwischen dem soliden, von Standortinteressen geleiteten bundesdeutschen Pragmatismus und globaler Moral. Viele Halbtotalen, weniger Nahaufnahmen. ‚Ökozid‘ will nicht suggerieren, sondern zur Debatte stellen.“ (Die Tageszeitung, 18.11.2020)

„Das Interesse der Zuschauer dürfte sich vor allem auf die achtzigjährige, stimmlich wie körperlich aber eher verjüngte Angela Merkel (Martina Eitner-Acheampong) richten, die anders als der ebenfalls geladene, jedoch in der Russischen Föderation abgetauchte (und bereits neunzigjährige) Gerhard Schröder persönlich erschienen ist, um das Urteil der Nachwelt über die eigene politische Ära, die in ihrem Widerspruch zwischen Klima-Bekenntnissen (medienöffentliche Grönland-Reise 2007) und Standortpolitik seziert wird, mit Anstand und Stolz entgegenzunehmen. Sie ist auch für den so rührend naiven wie erzählerisch gelungenen Höhepunkt des Films verantwortlich, einen wie schon 2011 (Atomausstieg) oder 2015 (Flüchtlingsaufnahme) intuitiv ergriffenen Merkel-Moment, in dem plötzlich die Klimakanzlerin spricht.“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.11.2020)

Ralph Eue 11.03.2021

 

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