KINO 2018
Auf der Schwelle zur Authentizität

Casting
Foto (Ausschnitt): © Südwestrundfunk

Wie kann man heutzutage den Namen Rainer Werner Fassbinder heraufbeschwören, ohne ihn zu entehren? Der Film „Casting", eines der fesselndsten Angebote der 15. Ausgabe von KINO, tut dies mit Selbstbewusstsein, trotz der Gefahr, es umsonst zu tun.

Nicolas Wackerbarths Film Casting basiert auf Die bitteren Tränen der Petra von Kant (1972) des äußerst produktiven Regisseurs, mit dem er die Heimat teilt. Der Film ist eine kleine, angenehme Überraschung, bei der es um die traditionelle Hektik beim Filmdreh geht. Vera, eine Dokumentarfilmregisseurin, geht spielerisch mit dem Werk Fassbinders um, wobei sie ein Remake wagt. In einer Zeit, die übersättigt ist von Fortführungen von Werken, die vor langer Zeit beiseitegelegt wurden, und in der so manche Neuverfilmung das Original befleckt, wirkt Casting durch seine selbstkritische Bescheidenheit belebend. In einem Moment fragt sich Vera, warum sie etwas schon Dagewesenes aufnimmt, statt etwas Eigenes zu schaffen. Es handelt sich um einen Fernsehfilm, der sie in ihrer schöpferischen Freiheit hemmt. Trotzdem scheut Vera nicht davor zurück, die Zeit zur Auswahl der Schauspielerin für die Rolle der Petra von Kant zu überziehen, um auf diese Art und Weise ihr Perfektionsideal zu erreichen. Dies ist das Casting, das dem Film zum Titel verhalf, ein Film, in dem die Wirren einer unter Zeitdruck gedrehten Studioproduktion erzählt werden.  

Höhepunkt und Fall

Vom Kostüm bis hin zu den Stühlen im Set bedarf jedes Element der ausdrücklichen Zustimmung der Regisseurin. Eine nach der anderen treten namhafte Schauspielerinnen auf, gedemütigt von der bloßen Unwahrscheinlichkeit, die Auserwählte für die Rolle zu sein. Wiederholt wird das Alter als Hürde genannt. Ab einer bestimmten Altersgrenze verringern sich die Chancen der Schauspielerinnen stark. Sie werden dann nach und nach mit dem Etikett der "Mutter von...” immer weiter in Nebenrollen gedrängt. Und wenn hier ein Verbindungsglied zu den weiteren Filmen der 15. Ausgabe von KINO besteht, so ist dieses über den Begriff der Vergessenheit möglich. Im Film Herbert von Thomas Stuber gerät der Boxer, der die Handlung trägt, immer mehr in Vergessenheit, verdrängt von Krankheit und neu aufkommenden Talenten. Einst erntete er Applaus, heute ist davon nur ein gerahmtes Bild übrig. Im österreichischen Film Wilde Maus von Josef Hader verliert die Hauptperson ihre Stelle als einflussreicher Musikkritiker. Die Kündigung geht mit dem Erreichen eines Alters einher, in dem die Gesellschaft ihn nicht mehr beachtet und nicht mehr mit ihm rechnet. Auf eine subtile Art und Weise bringt Casting das Thema der älteren Schauspielerinnen ans Licht, die durch jüngere und oft unerfahrene neue Gesichter verdrängt werden und in Vergessenheit geraten. 

Fassbinder modernisieren

In diesem Film wird zwar das weibliche Geschlecht als hauptsächliche, benachteiligte Instanz dargestellt, der wichtigste Handlungsbogen wird in Casting jedoch an den Mann vergeben, auf den Petras Liebe zielt. Auch wenn es scheint, dass an den ursprünglichen Dialogen keine Änderungen vorgenommen wurden, ist die stärkste Metamorphose des in Casting eingebetteten Films gegenüber dem Original von Fassbinder die Änderung des Geschlechts desjenigen, der in Petra die Obsession verursacht. Die lesbische Gewagtheit von 1972 weicht in der Gegenwart einem Spiegel der Liebe im allgemeinen Sinne. Auf einmal wird der Film Die bitteren Tränen der Petra von Kant so dargestellt, als sei die sexuelle Ausrichtung nicht als das Hauptthema gemeint. Vielmehr ist es die Erforschung des menschlichen Daseins zwischen den Trümmern seines Erfolges und seines Scheiterns. Casting wird dem durch die von den Schauspielern im Augenblick des Spiels selbst aufgeworfenen Fragen gerecht. Der männliche Hauptdarsteller zeigt eine stete Unsicherheit und weist jedes ihn verherrlichende Lob von sich. Er sieht sich gezwungen, etwas von sich selbst einzubringen, eine künstlerische Vortäuschung, die versucht, das Authentische selbst zu erreichen. In dieser Hinsicht erinnert Casting an Salaam Cinema (1995) von Mohsen Makhmalbaf. Sowohl der Iraner als auch der Deutsche missbrauchen bis zur Erschöpfung diesen Willen, eine Schauspielrolle zu bekommen. Beide verlangen reales Erleben zwecks höchster Glaubhaftigkeit im Schauspiel. Sie arbeiten mit der Utopie des Authentischen. Casting schlendert an eben dieser Grenze entlang, ein Spiel der Identitäten.

Der Film von Nicolas Wackerbarth möchte den Klassiker von Fassbinder modernisieren, ihm etwas von dem Verschleiß der Körper nehmen, die sich nicht, wie heute, berührten. Für Casting ist der Film lediglich Ausgangspunkt für die authentischen Wesen, die versuchen, das Vermächtnis der von Fassbinder beschriebenen Personen zu erleben.