Isabelle Stever im Interview
„Vorhersagbare Filme haben einen einschläfernden Effekt“

Isabelle Stever
Isabelle Stever | © Goethe-Institut

Die Regisseurin Isabelle Stever über Improvisation, schöpferische Experimente, langweilige Menschen, erfolgreiche Filme, Frauen auf der Suche nach sich selbst und den Feminismus.

Was suchen Ihre Charaktere – Gisela und Simone? Was suchen Sie im Leben?

Wie kann ich leben ohne mich allzu sehr zu verraten? Gisela und Simone suchen danach, ihre Einzigartigkeit zu bewahren. Simone glaubt nicht an das Glück. In den meisten Menschen steckt etwas von Simone.

Eine Frau in der modernen Welt, insbesondere in Europa, hat natürlich viel mehr Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung als, sagen wir, vor hundert Jahren, aber von voller Gleichberechtigung der Geschlechter kann noch nicht die Rede sein. Was denken Sie, ist das etwas wonach man streben sollte? Oder stellt das Leben selbst Prioritäten für eine Frau – Job oder Familie, Kinder oder Bildung, und so weiter?

Wenn ich diese Frage entscheiden dürfte, so würde ich sagen: In allen Gesellschaften sollte dringend zur Gleichberechtigung der Geschlechter gestrebt werden. Und nirgends auf der Welt gibt es diese Gleichberechtigung der Geschlechter meiner Ansicht nach. Aber darf ich anderen Menschen diktieren, wie sie leben sollen? Was ich als Gleichberechtigung, als lebenswertes Leben empfinde, muss nicht jedem als solches erscheinen. Ist meine Art zu leben wirklich die „richtige“? Doch da das Abweichen von Konventionen meine Erzähllust nährt, beziehe ich zu diesem Thema in meinen Filmen Stellung.

Betrachten Sie sich selbst als Feministin?

Ich fühle mich mit fortschreitendem Alter immer feministischer.

Ihre Filme sind kunstreiche Geschichten, gut gespielt, nah am realen Leben, glaubwürdig. Werden Sie inspiriert durch reale Geschichten aus dem Leben oder bevorzugen Sie als Regisseurin lieber eigene Ausarbeitungen?

Ich werde natürlich inspiriert durch reale Charaktere, Dialoge und Begebenheiten. In meinen Filmen setze ich die Versatzstücke aus der Realität oft an eine ungewöhnliche Stelle, um eine Wachheit im Betrachter zu erreichen, sodass er eingeladen wird, die Zusammenhänge aus der Realität zu hinterfragen.

Gefällt Ihnen Dokumentarfilm?

Ich habe einen einzigen Dokumentarfilm gedreht, für den Omnibusfilm (eine aneinandergehängte Sammlung von Kurzfilmen verschiedener Regisseure) Deutschland 09. Hierbei empfand ich es als die größte Herausforderung, Stellung zu einem Ereignis zu beziehen in dem Moment, in dem es geschieht. Das heißt, den Standpunkt der Kamera nicht wochenlang überdenken zu können. Ich leiste als Regisseurin normalerweise eine monatelange Vorarbeit für die filmische Umsetzung. Proben mit den Schauspielern, Auflösung, Ausstattung, Kostüm, Musiken. Ich brauche sehr viel Zeit, um Entscheidungen zu treffen. Doch es gibt auch solche Szenen in meinen Filmen, bei deren Realisation ich am Set gezwungen war zu improvisieren. Und das sind sogar manchmal ganz gute Szenen. So die Tanzszene aus Glückliche Fügung. Da gab es vorher kein Konzept, nicht einmal die Musik. Ich will wagen, in Zukunft mehr Improvisiertes zuzulassen.

„Gisela", „Glückliche Fügung" sind so genannte Autoren-/ Festival-Filme. Wie haben Sie die Zuschauer dazu motiviert, sich genau Ihren Film anzuschauen, wenn dieser doch im Kino mit zum Beispiel den Bond-Filmen oder „Star Wars“ konkurrieren muss?

Kann ich die Zuschauer motivieren, meine Filme anzuschauen? Ich bin leider nicht gut im Marketing. Ich kann nur nach bestem Gewissen etwas drehen, das mir betrachtenswert erscheint. In der Hoffnung, dass das noch weiteren Menschen betrachtenswert erscheint. Allerdings ist dies auch eine kulturpolitische Frage, die sie da stellen. Es gibt politisch die Möglichkeit eine Quote für nationale Kulturgüter einzuführen. Das hilft der Erhaltung der Vielfalt von Erzählformen. Damit nicht ausschließlich das gleichgeschaltete hochkommerzielle Einheitsbrei-Kino, vorrangig amerikanisch, an die Zuschauer gelangt. Auf lange Sicht befruchten innovative Erzählformen auch den Markt. Star Wars und Bond wären so, wie sie sind, ohne vorhergegangene Experimentierfreuden gar nicht möglich.

Was sind, Ihrer Meinung nach, die Bedingungen für einen guten Film? Ohne was kann er auf keinen Fall etwas werden?

Ein guter Film hat Humor und Erotik. Was ein guter Film ist, darf jeder für sich selbst entscheiden. Mancher Film hat nur fünf Zuschauer, die ihn aber niemals mehr vergessen werden. Und ein anderer Film hat mehrere Millionen Zuschauer, die ihn sofort vergessen haben. Aber das ist natürlich kein Umkehrschluss. Es gibt auch Filme mit Millionen Zuschauern, die ich für immer im Gedächtnis behalten habe. Allerdings, möchte ich behaupten: Je mehr ein Film Erwartungshaltungen und vorgefertigte Muster im Kopf des Betrachters bedient, desto weniger erhält er die Wachheit des Betrachters, sondern hat einen eher einschläfernden Effekt. Die Menschen, die sich kulturell ausschließlich von konformistischen Produkten ernähren, und oftmals gehören hierzu die Massenprodukte, finde ich oft ein bisschen langweilig.

Wenn Sie freie Zeit hätten, welche Filme würden Sie sich in erster Linie anschauen? Haben Sie einen zeitgenössischen, europäischen Lieblingsregisseur?

Ich schaue mir Filme an, die mir empfohlen werden oder deren Macher ich wertschätze. Ich misstraue Kritiken. Jacques Demy und Roberto Rossellini verehre ich. Gerade schaue ich mir viel von Pasoloni an. Zeitgenössisch, europäisch und noch am Leben: Claire Denis.

Glauben Sie, dass die Kinoindustrie unterstützt werden muss? Kamen Sie in den Genuss einer Finanzierung durch das Programm „Creative Europe“?

Ich kam nicht in den Genuss dieser Finanzierung „Creative Europe“. Weiß gar nicht, was das ist. Um auf Ihre Frage zu antworten, möchte ich sagen, dass ich es richtig finde, Kinoindustrie zu subventionieren. Ich bin auch für eine gesetzliche Quotenregelung für nationale Kulturgüter. Es gibt keine Mäzene mehr, die sich zur Aufgabe machen, Kulturelles zu unterstützen. Die Verantwortung für das Erhalten einer kulturellen Vielfalt liegt heutzutage beim Staat.

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