Rezension
„Tschick“ von Fatih Akin: Das Eigene im Fremden
Von Ksenia Reutova
Fatih Akin hat eine unbestreitbare Qualität, die vielen seiner Kollegen fehlt: Als Autor ist er absolut unerschrocken. Nach dem Erfolg von Gegen die Wand und Auf der anderen Seite hätte Akin durchaus die Stimme der türkischen Diaspora in Deutschland bleiben können, ein Konstrukteur kinematographischer Brücken zwischen Ost und West, der ewige Jäger einer ihm stets aufs Neue entgleitenden Identität. Das wäre ein respektabler und ein wichtiger Titel gewesen – insbesondere weil innerhalb der letzten zwanzig Jahre im deutschen Film niemand sonst mit vergleichbarem Talent aufgetaucht ist, der sich dieser Thematik annimmt.
Akin aber geht noch einen Schritt weiter. 2014 erscheint The Cut, ein Film, der den Genozid an den Armeniern im Osmanischen Reich thematisiert. 2017 folgt Aus dem Nichts, in dem Akin ausdrückt, was ihm zum gegenwärtigen „Rechtsruck“ in Europa einfällt. Beide Filme handeln von globalen Themen. Bewegten sich die Hauptdarsteller bei Akin bislang in „kleinen Heimaten“ wie Hamburg, Istanbul oder dem Dorf Çamburnu, beginnen sie nun, zwischen historischen Epochen, Kontinenten und sozialen Brennpunkten hin und her zu wechseln.
Tschick wurde in der Zeit zwischen The Cut und Aus dem Nichts abgedreht. Eine Herausforderung für Akin, denn Jugendfilme gehörten bisher nicht zu seinem Interessensbereich. Noch dazu handelte es sich bei dem Drehbuch um die Verfilmung eines Bestsellers, den einige Millionen deutsche Bürger gelesen hatten. Normalerweise nimmt Akin keine fremden Texte an, sondern entwirft seine Inhalte selbst. Die einzige Ausnahme bildet der Film Solino, eine Familiensaga italienischer Migranten.
Mit der Vorbereitung begann der Regisseur sieben Wochen vor Drehbeginn – aus Perspektive der Filmindustrie ein lächerlicher Zeitraum. Was Akin allerdings nicht daran hinderte, den Plan seines Vorgängers radikal umzuarbeiten. In Zusammenarbeit mit Lars Hubrich und Hark Bohm schrieb Akin nicht nur das Drehbuch vollständig neu, sondern tauschte auch den Darsteller für die Hauptrolle aus und verzichtete auf die Dienste eines bereits gebuchten 18-jährigen Schauspielers. Diesen empfand Akin als zu reif, im Buch ist Maik Klingenberg erst 14. Schließlich bekam Tristan Göbel die Rolle, dessen reales Alter bei den Dreharbeiten fast genau mit dem seiner Figur übereinstimmte.
Inhaltlich blieb der Stoff unverändert: Maik, der Sohn gut situierter, aber nicht sehr glücklicher Eltern, freundet sich mit seinem Mitschüler Andrej Tschichatschow, genannt Tschick, an, einem seltsamen Jungen, dem Verbindungen zur russischen Mafia nachgesagt werden. In einem geklauten blauen Lada begeben sich die beiden auf eine Reise durch Deutschland, während derer sie viele Abenteuer erleben.
Im Film passiert stattdessen etwas sehr Erstaunliches. Anstelle der zwei vollwertigen Charaktere Maik und Tschick präsentiert Fatih Akin dem Zuschauer nur noch einen. Ab einem bestimmten Moment beginnt Goodbye Berlin wie eine Auslegung von Fight Club zu wirken. Tschick kommt sprichwörtlich aus dem Nichts zu Maik und verschwindet auch wieder ins Nichts, so als würde er sich im Raum auflösen. Seine Rolle hat nur noch unterstützenden Charakter: Die Reise, die in Berlin beginnt und die sich in eine Reise ins Innere verwandelt, unternimmt nur noch einer der Jungen.
Nicht im biologischen, sondern im sozialen Sinne erwachsen zu werden, bedeutet bei Akin, den Fakt als Selbstverständlichkeit hinzunehmen, dass eine Vielzahl an „Anderem“ existiert: Leute, die seltsam, oftmals unverständlich und überhaupt nicht so sind wie man selbst. Der schönste Sommer des Lebens ist der, in dem die Welt einen mit ihrer Vielschichtigkeit und ihren Möglichkeiten sprachlos macht. Eben schien sie noch so klein. Doch dann stellt sie sich als riesengroß heraus.