Übersicht
Die zehn wichtigsten deutschen Dokumentarfilme

Mein liebster Feind
Mein liebster Feind | © Werner Herzog Film

Der deutsche Regisseur und Jury-Vorsitzende des DOKer Filmfestivals 2018 Uli Gaulke empfiehlt zehn Dokumentarfilme von deutschen Filmemacher*innen, die man gesehen haben sollte.
Uli Gaulke arbeitet seit der Mitte der 1990er-Jahre als Dokumentarfilmer. Er wurde 1968 in Schwerin ­– im Norden der DDR – geboren und wuchs dort auf. Seit 1989 wohnt er in Berlin. Er hat an der Hochschule für Film und Fernsehen in Potsdam Babelsberg studiert. Seine Filme liefen auf internationalen Festivals wie der Berlinale, in Cannes, Sundance, Toronto und erhielten dort zahlreiche Preise. 2001 bekam er für seinen Film Havanna, Mi Amor den „deutschen Oscar“, den Preis der Deutschen Filmakademie Lola. Uli Gaulke ist Mitglied der Deutschen Filmakademie und lehrt Film im In- und Ausland.

Von Viktoria Mokretsova

Sinfonie der Großstadt ©   Sinfonie der Großstadt

BERLIN – DIE SINFONIE DER GRoßSTADT

Walther Ruttmann, 1927

Ich lebe jetzt seit 27 Jahren in Berlin. Das ist ein Film, der auch dazu beigetragen hat, dass ich da so gerne lebe. Er besteht aus kleinen Geschichten, die der Regisseur in Berlin beobachtet. Er zeigt, wie alles miteinander zusammenhängt und verknüpft ganz viele Beobachtungen in der Stadt, sodass man das Gefühl hat, man erlebt sie in Echtzeit. Man taucht ein und kommt nicht wieder raus. Man ist verzaubert von dieser Lebendigkeit, wie sich so eine Stadt zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang organisiert: wie die Geschäftigkeit zunimmt, wie Wege beschritten werden, wie ein Leben abläuft. Und das hat Ruttmann sehr innovativ geschnitten, deswegen ist der Film heute auch stilbildend und einer der größten Klassiker.

Olympia ©   Olympia
OLYMPIA

Leni Riefenstahl, 1938

Leni Riefenstahl war eine der wichtigsten Filmemacherinnen im Deutschen Reich und sie war im Dienste des Systems mit ihrer Kamera unterwegs. Sie hat den Nürnberger Parteitag, die Olympischen Spiele und andere Ereignisse dokumentiert. Das Strittige an ihrer Persönlichkeit ist eigentlich, dass sie den Faschismus in Deutschland ästhetisiert hat. Sie hat ihn auf einen Sockel gestellt, hat ihn gefeiert, obwohl es eigentlich nichts zu feiern gab. Aber als Künstlerin ging es ihr darum, die filmischen Möglichkeiten, die es damals gab, auszureizen und weiterzuentwickeln. Alles, was sie porträtiert hat, ist auf einem hohen künstlerischen Niveau. Und das ist unumstritten. Wie sie gearbeitet hat, ist immer noch inspirierend auch für Filmemacher*innen heutzutage.
 

WINTER ADÉ

Helke Misselwitz, 1988

Winter Adé © © DEFA Stiftung / Thomas Plenert Winter Adé © DEFA Stiftung / Thomas Plenert
Das ist eine Reise von dem Ort, in dem die Regisseurin geboren ist, bis in den Norden der DDR. Helke Misselwitz porträtiert Frauen und erzählt damit von einer Stimmung in der DDR, die letztendlich dazu geführt hat, dass es das Land wenig später nicht mehr gab. Den Film im Nachhinein und heute noch zu sehen bedeutet, diese Stimmung in den letzten Tagen eines sich auflösenden Landes zu spüren, was – als der Film gedreht wurde – noch keiner wusste, auch dass es so schnell geht. Aber das ist ein irres Zeitdokument. Da bleibt etwas hängen von dem Frauenbild, das es nur im Osten gab. Es waren Frauen, die gearbeitet haben, Kinder großgezogen haben, die ein relativ hartes Leben hatten, aber es auf ihre Art so kraftvoll gemeistert haben.

FLÜSTERN & SCHREIEN

Dieter Schumann, 1985–88

Flüstern und schreien © © www.cinema.de Flüstern und schreien © www.cinema.de
Das ist ein Film über die Underground-Rockszene in der DDR. Es ist ein intimer Einblick in eine sehr aufrührerische und unabhängig agierende Community. Da war ich nicht drin und der Film hat mir eine komplett neue Welt eröffnet. Leider zu spät, weil – die DDR gab es nicht mehr. Dieter Schumann porträtiert verschiedene Rock-Bands: Feeling B, Silly, Chicoreé, Sandow. Interessant ist, dass drei der Musiker von Feeling B später in Rammstein aufgegangen sind. Dieser Film steht für mich explizit für etwas, das man gerne von der DDR in Erinnerung behält.
 

DIE KINDER VON GOLZOW

Barbara und Winfried Junge, 1961–2007

Die Kinder von Golzow © © DEFA  Die Kinder von Golzow © DEFA
Das ist eine Langzeit-Beobachtung eines kleinen Dorfes. Sie dauert mehr als 30 Jahre, geht über drei Generationen und erzählt ganz einfache Familiengeschichten. Und hat damit auf wunderbare Art den Wandel beschrieben, den es in Ostdeutschland gab bis über die Wende hinaus: was aus einer kleinen Community, aus ihren Träumen wird. Die Regisseure haben zuerst einen Film über eine Schulklasse gedreht, die eingeschult wird, und dann haben sie diese Kinder über zehn Jahre begleitet. Dann haben diese geheiratet und wieder Kinder gekriegt, die wieder zur Schule gegangen sind. So ging es weiter. Daraus ist ein riesengroßes Sittengemälde entstanden, ein Portrait, wie sich so eine Mentalität entwickelt und wie es zu Brüchen kommt, wie da auch die Wende reinspielte. Das ist äußerst beeindruckend, vor allem durch diesen langen Atem, den der Film hat.  
 

DEUTSCHLAND IM HERBST

Alf Brustellin, Hans Peter Cloos, Rainer Werner Fassbinder, Alexander Kluge, Beate Mainka-Jellinghaus, Maximiliane Mainka, Edgar Reitz, Katja Rupé, Volker Schlöndorff, Peter Schubert, Bernhard Sinkel,1978

Deutschland im Herbst  © © Project Filmproduktion im Filmverlag der Autoren Deutschland im Herbst © Project Filmproduktion im Filmverlag der Autoren
Das ist ein Gemeinschaftswerk aus einer Zeit, in der Deutschland am Scheideweg war. Deutschland im Herbst ist eine Bestandsaufnahme des linken Terrorismus. Und das aus verschiedenen Perspektiven von den wichtigsten Regisseur*innen im deutschen Film - bei ihnen allen brannte es quasi unter den Nägeln. Jeder von denen musste sich positionieren und war hin- und hergerissen als Künstler*in, zu welcher Seite man gehört. Diese Zerrissenheit mag ich sehr an dem Film. Dadurch wurde so eine Stimmung geschaffen, die uns heute einen sehr intensiven Eindruck vermittelt von dem, was da alles los war. Ich habe das damals nicht mitgekriegt, ich war im Osten. Ich habe im Nachhinein darüber nachgedacht, was passiert wäre, wenn sich dieser „deutsche Herbst“ deutschlandweit – also auch im Osten – ausgebreitet hätte, vielleicht hätte man früher zusammenkommen können. 
 

BLACK BOX BRD

Andres Veiel, 2001

Black Box BRD © © zero film Black Box BRD © zero film
Für mich ist Veiel einer der wichtigsten deutschen Regisseure. Man kann fast jeden Film von ihm nehmen und damit die BRD erklären. In Black Box BRD porträtiert er zwei diametral ausgerichtete Biografien: die des ermordeten Präsidenten der Deutschen Bank Alfred Herrhausen und die des RAF-Terroristen (RAF – Rote Armee Fraktion) Wolfgang Grams, der sich während der Polizei-Jagd erschossen hat. Diese beiden Geschichten haben auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun, aber der Film verlinkt das ungemein geschickt. Einer hat den anderen umgebracht, aber es wurde nie nachgewiesen. In den 1970ern war das. Nach der Wiedervereinigung von Deutschland wurde das dann ein sehr wichtiger Film, um zu verstehen, in welche Richtung sich Deutschland entwickelt hat und das anhand zweier unterschiedlicher Biografien: eines Aufsteigers, der ein führender Kopf der Wirtschaftselite war, und von einem, der den Staat gehasst hat.

STEP ACROSS THE BORDER

Nicolas Humbert, Werner Penzel, 1990

Step across the border © © www.sonore-visuel.fr Step across the border © www.sonore-visuel.fr
Das ist ein Film über Fred Frith und seine Band Step Across the Border. In diesem Film geht es speziell um New York, wo er lebt und wo er Musik macht. Das ist ein Porträt der Stadt in der Mischung mit den Tönen, die Fred Frith dort aufnimmt und zu Musik verarbeitet. Die Bilder, die die Filmemacher*innen produzieren, und die Musik von Fred Frith gehen da eine unglaublich schöne Symbiose ein. Das ist ein filmischer Essay über eine Stadt und die Stimmung, die von einer Stadt ausgeht, die sehr in die Breite geht und in der viele Dinge passieren.  
 

MEIN LIEBSTER FEIND

Werner Herzog, 1999

Mein liebster Feind © © Werner Herzog Film Mein liebster Feind © Werner Herzog Film
Das ist ein sehr lustiger Film über die Auseinandersetzung von Werner Herzog mit seinem Hauptdarsteller Klaus Kinski. Die Filme von Herzog sind geprägt und leben von dieser Auseinandersetzung. Man hat es immer schon geahnt, dass Kinski schwierig ist, aber noch nie so gesehen. In diese ganze Welt taucht man für anderthalb Stunden ein und merkt, was es bedeutet, einen Film zu machen und wie man dahin kommt, dass es am Ende so ein toller Film wird wie Fitzcarraldo. Das ist eine sehr humorvolle Auseinandersetzung mit unserem Beruf als Regisseur*in: wie man viele Dinge aushält, um am Ende das hinzubekommen, was man haben will.
 

BUENA VISTA SOCIAL CLUB

Wim Wenders, 1999

Buena Vista Social Club © © Wim Wenders Stiftung Buena Vista Social Club © Wim Wenders Stiftung
Dieser Film über kubanische Musiker strahlt Lebensfreude aus. Er schafft es immer wieder, eine unglaubliche visuelle Kraft zu erzeugen. Das ist auch ein Film über das Alter und wie man es mit Sinn füllen kann. Ich finde, dass man an diesem Film sehr gut sieht, dass das Leben erst endet, wenn das Herz aufhört zu schlagen. Bis dahin ist eigentlich alles möglich. Man kann bis zum letzten Atemzug großartige Dinge tun. Wenders hat mal gesagt, er hat darüber nachgedacht, wie es für ihn weitergeht. Dann kam er dahin und die alten Musiker haben ihn in den Arsch getreten und haben zu ihm gesagt: „Du, pass auf, mach deine Sachen so, wie du sie für richtig hältst und freu dich jeden Tag darüber, dass du das machen kannst.“
 

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