Berlinale-Blogger 2019
„Varda by Agnès“ – die grandiose Autobiographie einer Gefährtin des letzten Jahrhunderts

Varda by Agnès Аньес Варда 2018
Фото (фрагмент) © Cine Tamaris 2018

Auf dem Filmfestival in Berlin wird im Wettbewerb außer Konkurrenz der Film „Varda by Agnès“ gezeigt – ein Dokumentarfilm über die 90-jährige Agnès Varda. Als Regisseurin tritt sie selbst auf. Wir erklären, warum es ein unendlicher Segen für alle jungen Filmschaffenden ist, diesen Film zu sehen.
 

Viele Kunstschaffende wollen rau sein, Varda aber ist wie ein Ozean: ihre Ideen umspülen ganze Kontinente; so heißt auch der berührendste ihrer Filme „Die Strände von Agnès“. Das Repertoire der Französin umfasst sentimentale Melodramen über Dreiecksbeziehungen und Dokumentarfilmarbeiten über Vietnam; Filme über das Leben von Stilikonen und das Schicksal Obdachloser; einen Film über die „Black Panthers“ in Amerika und einen über Dorfheilige; eine Hommage an ihren verstorbenen Mann – den bekannten Regisseur Jacques Demy – und eine Interviewsammlung mit den Witwen unbekannter Männer. Man sagt, dass ihre Ideen die „New Wave“ ausgelöst haben, und sie selbst kann man als Schülerin der „Kino-Prawda“ („Film-Wahrheit“) von Dsiga Wertow sehen. Doch der Zauber der Geschichte, die im Film „Varda by Agnès“ erzählt wird, liegt gerade darin, dass er eben nicht auf einen Haufen Langweiler als Publikum abzielt, die in der Lage sind, den Unterschied zwischen „Kino-Prawda“ und „Cinéma Vérité“ herunterzubeten. Der Film ist keine Meisterklasse und keine Beichte, sondern die mitreißende Lebenschronik eines unglaublichen Menschen, der sein Potential vollständig entfaltet hat. Und während Agnès Varda das turbulenteste Jahrhundert der Geschichte erlebte, wich sie nie auch nur einen Schritt von ihren Überzeugungen ab. Fast ist es eine Heiligenvita – allerdings die einer Heiligen, die in der Lage ist, immer wieder über sich selbst zu lachen.
 
Die Dokumentation „Varda by Agnès“ ist einerseits einfach gestrickt, andererseits aber auch nicht. Einen Großteil der Zeit sitzt die Protagonistin auf einer Bühne vor Hunderten von Menschen und erzählt von ihrer langen Liebesbeziehung zum Filmwesen, wobei sie immer wieder kleine Referenzen auf Filme miteinbezieht und Freund*innen aus dem Saal nach vorne holt. Aber wirkt das alles wie eine zwei Stunden andauernde, einschläfernde Aufdringlichkeit einer ordensgeschmückten Veteranin? Auf keinen Fall! Varda hat sich eine faszinierende Beweglichkeit im Kopf und ihre Scharfsinnigkeit bewahrt; fast jede ihrer Repliken ist aphoristisch. „Vor kurzem bin ich 90 geworden, aber I don’t care. Vor zehn Jahren aber, als ich mich meinem 80. Geburtstag näherte, bekam ich Panik: Ich muss es noch schaffen, etwas zu bewegen!“
 

Varda by Agnès 2018
Foto (Ausschnitt): © Cine Tamaris 2018
Jeden ihrer Gedanken über die Struktur des Films illustriert sie anhand einer speziell abgedrehten Szene. Könnt ihr erraten, warum Bewegungsbilder in den Varda-Filmen fast immer von links nach rechts aufgenommen werden? Weil die westliche Zivilisation daran gewöhnt ist, Bücher von links nach rechts zu lesen! Somit stattet uns der Film mit einer neuen Fähigkeit aus, Buchstaben, Bilder und Sinn aufzunehmen. Wegen der Dutzenden, wenn nicht Hunderten solcher hellsichtigen Beobachtungen sollte man sich den Film „Varda by Agnes“ ansehen.
 
Im Grunde ist es eine faszinierende Publikumserfahrung – Zeuge dessen zu sein, wie eine Regisseurin die eigenen Filme auseinandernimmt. Erinnert ihr euch an den Film „Hundert und eine Nacht“ – einen betörenden Karneval, der von Varda und ihren Freunden veranstaltet wurde, um den hundertjährigen Geburtstag der bewegten Bilder zu feiern? Der Film ist ein Phantasieren zu dem Thema, wie das Filmwesen wohl aussehen würde, wenn es ein Mensch wäre. Als „männliche Version“ hierzu kann man „The other side of the Wind“ von Orson Welles sehen, der erst nach dessen Tod fertiggestellt und im letzten Jahr in Venedig gezeigt wurde. In „Hundert und eine Nacht“ gibt es eine Szene, in der Catherine Deneuve und Robert De Niro in einem schneeweißen Boot dahingleiten. Doch nun erzählt Varda, wie sie diese Szene wirklich gefilmt hat. Anstelle des blauen Meers gab es nur einen kümmerlichen Teich. Und anstelle des Ruderers De Niro 40 Leute und unter dem Wasser laufende Schienen, die das gerade Davongleiten des Bootes sicherstellen sollten. Diese trügerische Leichtigkeit des Filmlebens existiert im Prinzip auch im Film „Varda by Agnès“: jede der Szenen ist eine penibel geplante Videoinstallation.
 
Vardas Weg ist im Endeffekt eine Geschichte erstaunlicher Vitalität und der Kunst, sich auf alles Neue einzulassen. So bringt sie die Dramaturgie ihres Filmes „Die Zeit mit Julien (Kung-fu Master!“) mit der Logik eines Videospiels zusammen, in dem ihr Sohn mitspielt. Und sie erzählt, wie das Aufkommen der Digitalkameras zur Jahrhundertwende es ihr ermöglichte, noch näher an ihre Figuren heranzukommen. Auch der Film „Varda by Agnès“ selbst ist wie eine zweistündige Vorlesung im Format der TED Talks aufgebaut. Alle Worte in ihm sind so gewählt, dass sie einerseits die Spannung halten und andererseits die Ausdauer heutiger 20-jähriger Zuschauer*innen anspornen – die zwar von ihrem Wesen her begeisterungsfähig, aber nicht in der Lage sind, eine Sache länger im Fokus zu behalten.
 
Obwohl sie das Augenlicht zusehends verliert, findet Varda doch immer wieder Möglichkeiten, mehr zu sehen als andere. Im Film gibt es eine Szene, in der die Regisseurin ihre Schauspieler*innen auf einer Treppe in Reihen anordnet und jedem/r einen großen Buchstaben in die Hand gibt – wie auf der Sehtest-Tafel beim Augenarzt. Selbst stellt sie sich gegenüber der Treppe auf und bittet die Schauspieler*innen, die Buchstaben zu schwenken. So wird aus einem langweiligen Arztbesuch ein lustiges Vergnügen. Und dieses soll alle Filmschaffenden daran erinnern, dass ein/e Regisseur*in sich niemals ausruhen darf. Weil man eben immer wieder etwas erschaffen kann, das noch nie dagewesen ist.

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