Interview mit Jens Siegert
111 Gründe, Russland zu lieben

111 Gründe, Ruwssland zu lieben
© Goethe-Institut

„111 Gründe, Russland zu lieben“ – das ist ein Buch, geschrieben von Jens Siegert, einem deutschen Journalisten, der seit 1993 in Moskau lebt und arbeitet.
 

Das Konzept des Buchs stammt vom Verlag Schwarzkopf & Schwarzkopf. Dort sind bereits zahlreiche Bücher mit dem Titel: „111 Gründe, … zu lieben“ (bspw. Kanada, Frankreich, Fußball, Pilze usw.) erschienen. Da Jens Siegert schon so lange in Russland lebt und in seinem Blog über das Land schreibt, bot der Verlag ihm an, ein Buch für ebenjene Reihe zu verfassen. Nach ausgedehnten Diskussionen über die Komplexität des Gefühls und der Ausprägungen von Liebe, nahm er den Auftrag schließlich an. Dabei gelang es ihm, Russland gleichzeitig mit viel Sympathie, aber auch mit einem durchaus kritischen Blick darzustellen.

Herr Siegert, Sie haben das Buch „111 Gründe, Russland zu lieben“ geschrieben. Lieben Sie Russland?

J. Siegert: Ich bin schlicht und einfach nicht in der Lage, so etwas Großes wie ein Land insgesamt zu lieben. Ich kann einzelne Menschen lieben, ich kann Speisen lieben, ich kann bestimmte Musik lieben – ich kann vielleicht auch sagen, dass ich Musik insgesamt liebe, aber ich liebe nicht alle Musik. Es sind immer einzelne Sachen. Und das hat natürlich auch dazu geführt, darüber nachzudenken, was es für mich heißt, zu lieben und eine der wichtigsten Erkenntnisse dabei ist: Meistens wenn Menschen über Liebe denken und reden, haben sie heute ein romantisches Bild von Liebe im Kopf – den schönen Teil von Liebe. Ich glaube aber, dass echte Liebe, wirkliche Liebe, auch eine negative Seite hat. Ein bisschen inspiriert bin ich hierbei übrigens von Thomas Mann. Das ist natürlich eine große Referenz. Gar nicht einmal von Thomas Manns Gedanken über Liebe, aber von Thomas Manns Gedanken über Schönheit. Er schreibt nämlich auf der ersten Seite des zweiten Bandes von „Joseph und seine Brüder“, dass echte Schönheit nie vollkommen sein kann. Etwas, das wir wirklich schön finden, hat immer Fehler. Und ebenso: Etwas, das wir lieben, hat immer Fehler. Etwas, das ohne Fehler ist, können wir nicht lieben, denn etwas, das ohne Fehler ist, ist unmenschlich, ist künstlich. Und Künstliches lieben wir nicht. Wir lieben Leben, wir lieben Lebendigkeit. Und so geht es mir mit Russland auch. Ich liebe viel Lebendigkeit an diesem Land, aber wenn jemand daraus irgendetwas Künstliches machen will, ein Kunstprodukt, ein Ideologieprodukt, dann ist es nicht mehr das, was ich liebe.

Sie leben hier schon seit vielen Jahren – über 25 Jahre lang – und Sie haben Russland von verschiedenen Seiten und zu verschiedenen Zeiten erlebt. Von welchem Russland handelt Ihr Buch?

J. Siegert: Von meinem Russland. Dieses Buch ist ein ausgesprochen persönliches Buch über das Russland, das in mir ist. Ich bin davon überzeugt, dass jeder andere Mensch ein anderes Buch geschrieben hätte mit anderen Gründen und anderen Schwerpunkten als ich, daher ist es ein sehr individuelles Buch. Und es handelt sich natürlich um ein Land, das sich unheimlich verändert hat allein äußerlich. Wenn Sie heute durch Moskau laufen, werden Sie es nicht mehr wiedererkennen. Es ist eine ganz andere Stadt, als die Stadt vor 25 Jahren. Die Stadt, in die ich damals gezogen bin, war eine graue Stadt, in der es fast keine Farben gab. Heute ist es eine Stadt, die so bunt ist, dass es einem schon fast wieder, wie man im Deutschen sagt, zu bunt wird. So, dass man es fast schon nicht mehr ertragen kann. Das ist die eine Seite. Und die andere Seite: Es gibt auch Sachen, die bleiben einfach. Fahren Sie irgendwo aufs Land nach Sibirien, fahren Sie in die Region hinein und dort werden Sie plötzlich Stellen finden, wo sich nichts geändert hat. Und diesen äußeren Änderungen entsprechen natürlich auch gewisse innere Änderungen. Einige Sachen ändern sich nicht oder sie ändern sich sehr, sehr langsam. Also nicht so schnell, dass man sie in 25 Jahren wirklich sehen könnte. Natürlich ist das heutige Russland ein anderes als das Russland vor 100 Jahren. Aber das kann man erst in diesem langen Rückblick sehen.
 

„Verstehen kann man Russland nicht,
 und auch nicht messen mit Verstand.
 Es hat sein eigenes Gesicht.
Nur glauben kann man an das Land.“
 
Fjodor Tjuttschew, 1866
Übersetzung ins Deutsche – Johann Wolfgang von Goethe

*„Ich denke, dass diejenigen, die heute Tjuttschew* zitieren, um zu behaupten, dass man Russland nicht verstehen könne, Tjuttschew nicht verstanden haben.“ *(Jens Siegert)

Man sagt, die Sprache bestimmt unsere Welt. Kann zum Beispiel ein Mensch, der überhaupt kein Russisch kann, Russland verstehen? Die russische Realität, die russische Mentalität?

J. Siegert: Im Prinzip ja, aber das ist sehr, sehr schwierig. Also ich kenne vielleicht zwei, drei Leute, die nicht oder kaum Russisch können, von denen ich glaube, dass sie viel von dem verstanden haben, wie dieses Land tickt. Aber das sind Ausnahmen. Fast alle Menschen die nicht aus Russland stammen, von denen ich sagen würde, die kennen Russland wirklich gut, haben länger hier gelebt und die können die Sprache sehr gut. Ohne Sprache ist es sehr schwierig – eher ein Glücksfall und nicht etwas, was man tatsächlich hinbekommen kann. Sprache sagt unheimlich viel über ein Land aus und wie die Menschen denken. Ich komme ja auch in meinem Buch darauf zu sprechen. Wie in Russland zum Beispiel das Wort „obida“ (Beleidigung) in ganz, ganz unterschiedliche Weise benutzt wird. Von „oj, obidno, schto eto ne polutschilos“ (schade oder peinlich, dass es nicht gelungen ist) – oder im Film „Beloje solnze pustyni (Die weiße Sonne der Wüste): „mne sa derschawu obidno“ (wörtlich: mir tut es weh um mein Land) bis zu der Praxis, wie mit den Formen von Kränkung und gekränkt sein kommuniziert wird. Das ist etwas, das man von außen nicht sehen kann und ohne Sprache nicht verstehen kann. Was das Verstehen anbelangt, denke ich, dass diejenigen, die heute Tjuttschew* zitieren, um zu behaupten, dass man Russland nicht verstehen könne, Tjuttschew nicht verstanden haben. Denn wenn man sich das Werk Tjuttschews anschaut, kann ich mir nicht vorstellen, dass er diesen bedeutungsvollen Satz nicht (selbst-)ironisch gemeint hätte, dass man Russland mit dem Verstand nicht verstehen kann, nicht begreifen könnte. Er, der „Westler“, hat darunter gelitten.

Haben Sie Lieblingswörter und Lieblings-Redewendungen, die Russland sehr gut charakterisieren?

J. Siegert: Nicht für das ganze Land. Es gibt aber natürlich ein paar Sachen. Ich liebe viele Zitate aus Filmen. Zum Beispiel: «Sejtschas my pogljadim kakoj eto Suchow - (Lass uns sehen, was das für ein Sukhow ist) sagt Pawel Luspekajew im Film „Die weiße Sonne der Wüste“. Ich würde aber eher sagen, dass es bestimmte Eigenschaften der Sprache sind, die ich mag. Am Russischen gefällt mir, dass es so wunderbar lakonisch sein kann. Das liegt beispielsweise daran, dass man die Personalpronomen weglassen kann. Man muss nicht sagen, «on skasal » (er sagte), man kann sagen «skasal» (sagte) und es liegt auch daran, dass man die Präsensformen von „sein“ weglassen kann. Und was ich an der russischen Sprache einfach liebe sind die «Dejepritschastija» (Gerundium), also einzelne Worte, die man ins Deutsche immer nur in einem ganzen Nebensatz übersetzen kann. Und dann ist es natürlich so, dass es in jeder Sprache Sachen gibt, die man in ihr besser, passender, treffender ausdrücken kann, als in anderen Sprachen. Das hat oft etwas mit den Lebensumständen zu tun, manchmal auch mit Zufall. Meine Frau ist Russin, die sehr gut Deutsch kann, und es gibt Sachen, die wir nie – weder sie noch ich – jemals auf Russisch zueinander sagen würden, sondern immer die deutsche Version, weil es einfach schneller geht – und umgekehrt. Ich würde z. B. ihr gegenüber nie das Wort „Langweiler“ oder „Pedant“ im Deutschen benutzen, denn das russische Wort «sanuda» ist so viel schöner und umfassender und in seiner Umfassung dann auch komischerweise gleichzeitig viel konkreter, viel verständlicher.
Jens Siegert
Jens Siegert | © Dekabristen e.V
Im Buch gibt´s ein Kapitel „Weil sich Russen meist sehr leicht in zwei Kategorien“ einteilen lassen: die einen lieben Dostojewski, Tee und Käse, die anderen Tolstoj, Kaffee und Wurst. Was Sie angeht -  Tolstoj oder Dostojewski?

J. Siegert: Ich muss zugeben, dass die Idee von meiner Frau stammt. Sie ist eindeutige Dostojewskanerin. Sie anerkennt selbstverständlich, dass Tolstoj ein wirklich großer Schriftsteller war. Aber sie mag ihn einfach nicht. Inzwischen neige ich auch dazu, aber das ist tatsächlich eine interessante Geschichte. Ich habe versucht, diese These experimentell zu prüfen. Aber keine Bestätigung hierfür gefunden. Zugegebenermaßen war die Zahl der Befragten zu klein, um wirklich belastbare statistische Aussagen zu machen. Aber diese Trennung, dass die meisten Leute in Russland entweder Dostojewskij oder Tolstoj lieben, das stimmt meiner Beobachtung nach. Ich habe nur bisher wenige Leute gefunden, die gesagt haben, sie fänden sie beide gleich gut. Das ist interessant, zumal diese beiden Leute ja auch zur gleichen Zeit gelebt haben, teilweise auch in der gleichen Stadt. Übrigens gibt es interessanterweise keinen Beleg dafür, dass sie sich jemals begegnet sind. Für mich wiederum ist das völlig phantastisch. Zwei so bedeutende Intellektuelle in einem Land, teilweise in einer Stadt – und sie sollen sich nicht begegnet sein. Das wäre wirklich sehr seltsam.

Sie sagen, Ihr Hauptgrund, Russland zu lieben, seien die Menschen. Es gibt im Buch eine sehr interessante Liste von diesen Personen, die auch zu Ihren Gründen gehören, Russland zu lieben. Nach welchen Kriterien haben Sie diese Menschen ausgewählt und gibt es Personen, die in diese Liste miteingeschlossen werden könnten, aber am Ende doch nicht dort aufgeführt wurden?

J. Siegert: Ja, es gibt viele. Es wäre kein Problem gewesen, die 111 Gründe ausschließlich mit kleinen Portraits zu füllen. Insofern ist diese Liste natürlich eine Auswahl. Teilweise ist sie eine persönliche Auswahl, da einige Menschen aufgeführt werden, die für mich persönlich sehr wichtig waren und sind. Dann habe ich natürlich auch an meine ja wahrscheinlich meist deutschen Leser*innen gedacht. Das Buch ist ja nicht für russische Leser*innen geschrieben, obwohl ich deren Neugier natürlich vestehe. Aber in erster Linie geht es darum, Menschen in Deutschland Russland ein bisschen näher zu bringen und zwar besonders Menschen, die von Russland nicht so viel Ahnung haben. Deswegen habe ich auch Leute aus dem normalen, persönlichen Leben ausgewählt, wie z. B. Pjotr Jurjewitsch, den chinesischen Arzt – oder Max Jefimowitsch Gindenburg, ein Mensch, der die gesamte Sowjetunion gelebt hat. Aber eben auch Menschen, die etwas getan haben, was vielleicht nicht so alltäglich ist. Die sich hier in diesem Land engagiert haben. Gute Leute, an denen man zeigen kann, was für ein Potential dieses Land hat. Dazu noch ein paar Vertreter*innen der sogenannten „twortscheskaja intelligenzija“ (künstlerische Intelligenz), ein bisschen russische Kultur jenseits dessen, was als Mainstream ohnehin nach Deutschland und in den Westen kommt.

Wenn wir über die Sowjetunion, über das sowjetische Erbe sprechen, fühlen Sie dann eine Grenze zwischen dem Russischen und Sowjetischen?

J. Siegert: Nein, das Sowjetische ist Teil des Russischen. Ich würde nicht sagen, dass es das Sowjetische vom Russischen getrennt gibt, sondern dass die Sowjetunion nun mal ein vornehmlich russisch geprägtes Land und ein russischer, oder besser noch, ein russländischer Staat war. Im Deutschen haben wir das Problem, dass es kein Adjektiv gibt, das zwischen russkij und rossijskij unterscheidet. Russkij bezeichnet alles ethnisch Russische, wie Sprache und Kultur, während sich rossijskij auf die Staatlichkeit bezieht. In wissenschaftlichen Texten wird russkij daher meist mit russisch übersetzt, rossijskij dagegen mit russländisch. 70 Jahre lang war Russland sowjetisch und das ist bis heute ein Teil der Menschen, die noch in der SU geboren worden sind oder dort sozialisiert wurden. Und für alle später Geborenen ist es Teil ihrer Geschichte. Insofern sehe ich das nicht als zwei unterschiedliche Dinge. Das Sowjetische ist Teil dessen, was heute russisch ist. So wie in Deutschland sowohl das heutige Westdeutschland, als auch Ostdeutschland, also die ehemalige DDR, steckt, und natürlich auch noch ein Stück Marxismus und wenn man noch weiter zurück geht auch noch andere Geschichte. Ich glaube, dass es künstlich wäre, das zu trennen.
 
Grund 37: Weil Aberglaube noch alltäglich ist

Grund 44: Weil der Jedes-Jahr-zu-Silvester-Film drei Stunden lang ist

Grund 47: Weil es geriffelte Gläser gibt

Grund 49: Weil die Badesaison nicht auf den Sommer beschränkt ist

Grund 59: Immer Brot auf dem Tisch

Grund 65: Weil man mit Moosbeerensaft alles heilen kann

Grund 78: Weil Frauen in Russland das starke Geschlecht sind

Grund 83: Vatersnamen und wie sie funktionieren

Grund 91: Weil der Dichter Alexander Puschkin Russlands Ein-und-alles ist

Grund 108: Weil die Moskauer Metro mehr als eine U-Bahn ist
Sie haben gesagt, dass dieses Buch für ein deutsches Publikum geschrieben wurde und da das Buch schon vor einem Jahr erschienen ist: Gibt es sicher schon Reaktionen. Welche Rückmeldung haben Sie von Russen und welche von Deutschen bekommen? Vielleicht war in dieser Reaktion etwas, das für Sie überraschend war oder das Sie nicht erwartet haben?

J. Siegert: Ich bin überrascht, dass die Reaktionen bisher überwiegend positiv sind. Das Image Russlands in Deutschland ist kompliziert heutzutage. Die allermeisten Leute finden, dass man sich mit Russland gut stellen sollte. Und gleichzeitig gibt’s da eine gewisse Sorge und Angst. Und es gibt eben das, was in den letzten Jahren passiert ist: Die russische Annexion der Krim und der Krieg in der Ostukraine, der auch alte Ängste wieder hervorruft, ob dieses Land, dieser östliche Nachbar, so ungefährlich ist, wie man längere Zeit dachte, dass er inzwischen wäre oder dass er überhaupt nicht gefährlich ist. Aber insgesamt, denke ich, waren die Reaktionen recht positiv. Gerade in der Hinsicht, dass viele Leute, die meine kritische politische Publizistik oder meinen Blog kennen, ein bisschen überrascht waren über so ein Buch mit so einem Titel von mir. Aber nachdem sie es gelesen haben, waren die Reaktionen in der Hinsicht gut, dass sie meinten, es sei gut, dass es eben kein Buch ist,  das Russland nur in schönen Farben zeigt, sondern das die positiven Seiten zeigt, ohne aber die problematischen zu verschweigen. Es gefällt mir, dass ich es offenbar ein bisschen geschafft habe, Stereotypen durcheinander zu bringen. So etwas bringt die Menschen zum Nachdenken. Es ist eben nie alles schwarz und weiß im Leben, sondern es ist immer widersprüchlich. Ich leide sehr darunter, dass so viele Menschen in Russland, darunter auch viele meiner Freunde und Freundinnen, die Annexion der Krim so sehr begrüßt haben. Aber das heißt nicht, dass damit das ganze Land plötzlich zu einem Reich des Bösen oder Reich des Dunklen oder so etwas geworden ist, sondern es bleibt immer noch ein Land, in dem man leben kann. Irgendjemand, Churchill oder Bismarck glaube ich, hat mal gesagt, Russland ist unser Nachbar und es wird in 50 Jahren unser Nachbar sein und in 100 Jahren immer noch unser Nachbar sein. Das Land ist eben da und man muss sich mit ihm auseinandersetzen.

Vielleicht haben Sie nach diesem Buch auch eine andere Sicht auf andere Länder – eventuell auch auf Deutschland?

J. Siegert: Ja, natürlich. Ich glaube, ich könnte so ein Buch über Deutschland viel schlechter schreiben. Trotz dessen, dass ich schon so lange in Russland lebe und so viele russische Freunde und Freundinnen habe und meine Frau russisch ist. Ich glaube, hier immer noch stärker die Fähigkeit zu haben, mich ein bisschen an die Seite zu stellen und von außen auf die Dinge zu schauen. Für Deutschland kann ich mir durchaus vorstellen, dass meine Fähigkeit dieses Land ähnlich kritisch zu betrachten, wie ich Russland sehe, geringer ist. Es sind unterschiedliche Blicke und ich denke, darüber muss man einfach reden. Vielleicht kommt man so zu neuen Erkenntnissen.

Aber ist das dann Ihrerseits ein Blick von außen oder von innen auf Russland?

J. Siegert: Mein Blick ist beides. Ich merke, dass ich manchmal, wenn ich in Deutschland über Russland rede, anfange, Russland zu verteidigen oder stärker zu kritisieren, als ich das vielleicht hier machen würde. Wir alle verhalten uns ja immer situationsabhängig. Wir verhalten uns nie nur einfach so, sondern stellen unsere Kommunikation auf das jeweilige Gegenüber ein. Insofern frage ich mich auch ständig, wie weit bin ich schon russifiziert? Es gibt da ein paar Kleinigkeiten. Zum Beispiel folgende Situation am Tisch: Etwas wird in die Gläser eingegossen, Wein, Bier oder Schnaps, und in Deutschland ist es dann üblich, dass jemand „Prost!“ sagt oder auch nicht und die Leute trinken einfach. Natürlich wäre das in Russland völlig unmöglich. Irgendjemand sagt immer wenigstens einen kleinen Toast oder die Andeutung eines Toasts. Und ich bin in Deutschland in solchen Situationen inzwischen  völlig erstaunt, warum niemand etwas gesagt hat, weil ich mich schon so daran gewöhnt habe. Das Leben in Russland hinterlässt halt auch bei mir seine Spuren. Wäre ja auch schlimm, wäre es nicht so.

Zum Schluss eine kurze Blitz-Umfrage. Ich nenne Ihnen einen Begriff und Sie antworten mit einer Person, einem Gegenstand oder generell einem Wort, von dem Sie der Meinung sind, es charakterisiere Russland gut. Musik

J. Siegert: Spontan soll es sein? Rachmaninoff. Und Schnurow! (Sergej Schnurow – Lead-Sänger der Musikband „Leningrad“)

Ort

J. Siegert: Solowki. (Solowki sind eine Inselgruppe im Weißen Meer)

Essen

J. Siegert: «Seljodka pod schuboi». (Hering im Pelzmantel - ein russischer Salat) 

Kino

J. Siegert: Balabanow. (Alexej Balabanow – ein russicher Regisseur)

Menschliche Eigenschaften.

J. Siegert: Große Wärme.

Wort

J. Siegert: «Sanuda», obwohl eigentlich «Obida».

Kunst

J. Siegert: Wereschtschagin. (Wassili Wereschtschagin - ein bekannter russischer Kriegsmaler)

Alle Bilder oder ein bestimmtes Gemälde von ihm?

J. Siegert: Nein, nicht alle. Mich beeindruckt am meisten das Licht in den Bildern, die er in Zentralasien gemalt hat. Da ist eine völlig unwirkliche Klarheit der Luft. Sehr berührt haben mich außerdem zwei Bilder von ihm, die komischerweise im Brooklyn Museum in New York hängen. In Russland hat sie damals die Zensur nicht durchgelassen. Das eine heißt „Die Straße der Gefangenen“ und zeigt eine winterliche Straße, die eigentlich nur dadurch als Straße erkennbar ist, weil am Straßenrand Telegraphenmasten stehen und oben auf den Kabeln Krähen sitzen… Es ist eine Winterlandschaft, die er nach dem türkisch-russischen Krieg 1877-1878 gemalt hat. Dort liegen am Wegesrand Kriegsgefangene, teilweise schon tot. Das ist ein Bild von großer Hoffnungslosigkeit. Es hat mich einfach richtig erfasst. Diese Hoffnungslosigkeit. Und Wereschtschagin ist in der Hinsicht wirklich interessant, da er ein ausgebildeter Militär war. Er hat an vielen Kriegen teilgenommen – nicht als Soldat, sondern schon als Maler und in relativ später Zeit ist er daraufhin zum Pazifisten geworden. Eben wegen dieser Grausamkeiten, die er im Krieg gesehen hat. Insofern war er auf der einen Seite recht alt und traditionell und dann doch unheimlich modern.

Vielen Dank!
 
Das Buch „111 Gründe, Russland zu lieben“ ist in unserer Bibliothek ausleihbar.

 
 

 

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