Sprichwörter
Wirklich wahre Wendungen?

Ist die Morgenstund etwa doch nur ungesund?
Ist die Morgenstund etwa doch nur ungesund? | Foto: maxxyustas © 123RF

In seinem Buch „Morgenstund ist ungesund“ hat der Autor und Journalist Walter Schmidt festgestellt: Nicht alle Sprichwörter sind so weise, wie sie klingen. Warum verwenden wir sie dann überhaupt noch?

„Der Klügere gibt nach“, „Die Zeit heilt alle Wunden“, „Eigenlob stinkt“ … Nicht weniger als 250.000 Einträge enthält das Deutsche Sprichwörter-Lexikon von Karl Friedrich Wilhem Wander aus dem 19. Jahrhundert. Heute wie damals gibt es sicherlich niemanden, der so viele Sprichwörter kennt und verwendet. Doch glaubt man dem Germanistikprofessor und Sprichwortforscher Wolfgang Mieder von der University of Vermont, dann spielen Sprichwörter in unserem Sprachgebrauch nach wie vor eine bedeutende Rolle.

Stegreifsprüche statt weiser Einsichten

„Jeder einzelne kennt vielleicht hundert, zweihundert oder dreihundert dieser kurzen vorgeprägten Satzmuster, von denen er einige im alltäglichen mündlichen Sprachgebrauch benutzt. Aber auch in den Medien, in der politischen Rhetorik, in der Literatur und in der Kunst sind sie vertreten“, meint der Wissenschaftler. „Mal ist es uns gar nicht bewusst, mal weisen wir zum Beispiel mit der Floskel ‚Wie meine Großmutter immer sagte‘ ganz explizit auf die Sprichwörtlichkeit unserer Äußerung hin. Zunächst einmal geht es dabei darum, auf Erfahrungen und allgemeinen Beobachtungen beruhende Lebensweisheiten kurz und prägnant wiederzugeben.“

„Wenn wir zum Beispiel bei der Erziehung unserer Kinder nicht weiter wissen, helfen wir uns manchmal mit solchen Stegreifsprüchen, weil wir über weisere Einsichten nicht verfügen oder sie uns gerade nicht einfallen“, sagt Walter Schmidt. Der Autor und Journalist wollte wissen, wie viel Weisheit tatsächlich hinter unseren Sprichwörtern steckt und hat ausgewählte deutsche Sprichwörter im Gespräch mit Medizinern und Psychologen, Rechtsexperten und Pädagogen, Schlaf- und Alternsforschern auf ihren Wahrheitsgehalt geprüft. Die Ergebnisse seiner Recherchen wurden jetzt in dem Buch Morgenstund ist ungesund. Unsere Sprichwörter auf dem Prüfstand veröffentlicht.

In welchem Alter ist der Mensch am klügsten?

Walter Schmidt Walter Schmidt | Foto: Mia Schweichel Walter Schmidt macht hier beispielsweise deutlich, dass Glücksspieler und Workaholics nur sehr selten aus Schaden klug werden und dass die Zeit nicht unbedingt die Wunden derjenigen heilen kann, die schon seelische Traumata erlitten haben. Während das Buch in großen Teilen weitläufig Bekanntes auf unterhaltsame Weise präsentiert, sorgt es an der einen oder anderen Stelle auch für überraschende Einsichten: So zeigt Walter Schmidt zum Beispiel nicht nur, dass Alter tatsächlich nicht vor Torheit schützt, sondern auch, dass der Mensch laut Bildungsforschern nicht etwa im achten, sondern im dritten Lebensjahrzehnt sein Höchstmaß an Weisheit erreicht. Im späteren Erwachsenenalter könne nur noch Weisheit erreichen, zitiert Schmidt die Psychologin Ursula Staudinger, „wer zeitlebens nicht davor zurückscheue, schmerzlichen Erfahrungen ins Auge zu sehen und mit ihnen nach Kräften zurande zu kommen.“

Nach dem Schreiben dieses Buchs ist Schmidt überzeugt: „In aller Regel waren die Sprichwörter zu der Zeit ihrer Entstehung sinnvoll. Zum Teil sind sie es heute nicht mehr, weil sich die Welt gewandelt hat und weil sich zum Beispiel die Erkenntnisse aus Pädagogik und Hirnforschung geändert haben. Zum Teil sind sie heute aber auch sinnvoller denn je. Das Sprichwort ‚Wer rastet, der rostet‘ beispielsweise wurde von Gesundheitsforschern ganz klar bestätigt.“

Verfremdete Weisheiten

Wolfgang Mieder ist der Meinung, dass nicht immer die einzelnen Sprichwörter an sich wahr oder falsch sind. Stattdessen müsse häufig der einzelne Sprecher entscheiden, welches Sprichwort in einem bestimmten Kontext am besten passt. Immer wieder hört der Forscher das Vorurteil, dass Sprichwörter im heutigen Zeitalter nichts mehr zu suchen hätten: „Dahinter steckt die Vorstellung, dass in der Sprache jetzt alles neu erfunden wird, aber natürlich verwenden wir nach wie vor die vorgeprägte Sprache. Wenn man beispielsweise den Blick auf die Werbebranche richtet, kann man sogar sagen, dass kurze, allgemeine, leicht wiederholbare Formeln sich heute besonderer Beliebtheit erfreuen.“ Demnach verlieren zwar einige Sprichwörter im Laufe der Geschichte an Bedeutung, weil uns beispielsweise das Vokabular nicht mehr geläufig ist oder weil die Aussage nicht mehr zeitgemäß erscheint.

Das Buch von Walter Schmidt. Das Buch von Walter Schmidt. | Foto: © rororo Dafür erfindet jedes Zeitalter aber auch wieder neue Sprichwörter. „Früher gab es Sprichwörter über den Schuster, zum Beispiel ‚Schuster, bleib bei deinen Leisten‘. Heute entwickeln die Computerexperten ihre eigenen Sprichwörter, zum Beispiel ‚Garbage in, garbage out‘. Und die Medien sorgen dafür, dass Sprichwörter aus dem Englischen lehnübersetzt und im Deutschen verwendet werden, wie zum Beispiel ‚Der frühe Vogel fängt den Wurm' oder ‚Ein Bild sagt mehr als tausend Worte‘.“ Hinzu kommt, dass Sprichwörter nicht nur als didaktische Weisheiten, sondern auch witzig, ironisch oder satirisch verwendet werden: „Das war immer schon so. Doch man kann beobachten, dass sich der sprachliche Spieltrieb, also das bewusste Manipulieren, Parodieren und Verfremden von überlieferten Sprachformen, immer mehr durchsetzt“, sagt Mieder. „Journalisten verwenden solche veränderten Sprichwörter zum Beispiel in Schlagzeilen, damit der Leser stutzig wird und den vollständigen Text liest“. Und das stimmt ja sogar für den Buchtitel von Walter Schmidt.
 

Walter Schmidt:
Morgenstund ist ungesund. Unsere Sprichwörter auf dem Prüfstand. (Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2012)