Berlinale Blogger*innen 2022
„Sobald wir den Kopf heben, stören wir“

Fogaréu. Brasilien/Frankreich, 2022. Regie: Flávia Neves. Im Bild: Bárbara Colen. Berlinale, Sektion Panorama. © Bananeira Filmes 
Fogaréu. Brasilien/Frankreich, 2022. Regie: Flávia Neves. Im Bild: Bárbara Colen. Berlinale, Sektion Panorama. | Foto (Detail): © Bananeira Filmes 

„Fogaréu“, das Debüt von Flávia Neves, zeigt Aspekte der kolonialen Vergangenheit Brasiliens, die bis heute in der Gesellschaft allgegenwärtig sind. Im Interview erzählt die Regisseurin, wie ihr Schaffensprozess abläuft.

Von Camila Gonzatto

Nach dem Tod ihrer Mutter kehrt Fernanda, gespielt von Bárbara Colen, in ihre Geburtsstadt zurück, auf der Suche nach Wahrheit über ihre Vergangenheit. Sie wird von ihrer konservativen Familie empfangen, die in der Lokalpolitik und im Agrobusiness eine wichtige Rolle spielt. Gleichzeitig wird sie konfrontiert mit der Wirklichkeit neurodiverser Personen, die hier landläufig „Bobos“ (Idioten) genannt werden – Personen, die in der Kindheit adoptiert wurden, um in den Haushalten wohlhabender Familien zu arbeiten.

Frau Neves, die Geschichte von „Fogaréu“ trägt einige autobiografische Züge. Wie genau bringen Sie in dem Film Wirklichkeit und Fiktion zusammen?

Jahre nachdem ich von den „bobos“ in Goiás erfuhr, beschloss ich über diese verstörende Geschichte, die mich nicht losließ, zu recherchieren. Ich bin in Goiânia, der Hauptstadt des Bundesstaates Goiás, geboren und aufgewachsen. Von den „bobos“ hörte ich aber erst, als ich schon in Niterói lebte. 2014 reiste ich dafür nach Goiás, und dort bekam ich den Hinweis auf die wohl einzige Veröffentlichung dazu: Os ‚bobos‘ em Goiás: enigmas e silêncios (Die ‚bobos‘ von Goiás: Geheimnisse und Schweigen) von Marilucia Melo Meireles.

Als ich die Arbeit las, war mir klar, dass die Geschichte erzählt werden musste. Ich besuchte das Heim, in dem viele dieser Leute inzwischen leben. Genau dort, während dieser zehn Tage in Goiás, entstand bereits der Entwurf zu dem Drehbuch, an dessen Struktur sich seitdem nichts geändert hat. Allerdings fand ich erst bei der Ausarbeitung des Drehbuchs heraus, dass ich selbst damit mehr zu tun hatte, als mir lieb war.

Mir wurde klar, dass mein Interesse an dem Thema auch mit einer verschütteten familiären Erinnerung zu tun hat. Auch meine Mutter wurde, genau wie die „bobos“, im Alter von 12 Jahren adoptiert, um im Haushalt einer Familie zu arbeiten. Ich brauchte eine Weile, um mich selbst in die Geschichte einzubringen, den dies hieß, sich einem Schmerz und tiefen Verletzungen zu stellen, die ein Leben lang ignoriert worden waren.

Wie bereiteten Sie die Darstellenden auf den Film vor?

Ich hatte immer die Absicht, mit neurodiversen Personen zu filmen, ihre Welt zu zeigen, ihre Talente und ihre Gegenwart. Zu zeigen, welche neuen Impulse sie in künstlerische Prozesse einbringen können. Ich machte mich auf die Suche nach Theatergruppen, Werkstätten, Instituten und Schulen für Neurodiverse und stieß auf unglaubliche Projekte und sehr talentierte Schauspieler*innen. Im Zuge dessen begann ich auch selbst, die Dinge aus einer anderen Perspektive zu sehen.

Aus welchem Grund brachten Sie dann die fantastischen Elemente in die Erzählung ein?

Das Fantastische ist in der Kultur von Goiás allgegenwärtig, in der mündlichen Überlieferung geht es oft um Übernatürliches und Aberglauben. Es ist ein kulturelles Substrat aus archaischem Katholizismus, makabren Geschichten und kulturellen Manifestationen wie etwa die Feuerprozession ganz am Anfang des Films. Es ist Teil meiner Weltsicht.

Der Film behandelt wichtige Themen, wie Landkonflikte, Machismo und natürlich die Adoption neurodiverser Kinder, die praktisch zu Sklaven gemacht werden. Gab es eine Notwendigkeit, gerade jetzt darüber zu sprechen? Und wieso wird das Thema in Form eines Familiendramas behandelt?

Die Entscheidung, die Geschichte in eine Familiengeschichte einzubetten, geschah automatisch. Die angeblich „traditionelle“ Familie steht in der Kultur von Goiás im Mittelpunkt. Als mir klar wurde, warum ich diese Geschichte erzähle, wurde mir auch bewusst, dass ich eigentlich über „meine Familie“ erzählen wollte.

Über diese Familien, die nie verschwunden sind, nun im Land wieder die Macht übernommen haben und eine koloniale Vergangenheit wiederherstellen wollen, in der es keine Rechte gab und sie ungehemmt die natürlichen Reichtümer ausbeuten durften – für mich der Versuch, soziale Fortschritte zurückzudrängen, den Umgang mit historischer Gewalt und alle Veränderungen der brasilianischen Gesellschaft in den letzten Jahren. Dass eine Person meiner Herkunft, mit all der Gewalt im Rücken, Gelegenheit hatte, zu studieren und mit filmischen Mitteln all das zu erzählen, ist ein Beispiel für das, was sie wieder abschaffen und wieder stoppen wollen, als ginge das alles zu weit.

Solange wir mit gesenktem Kopf still waren, uns auf das Eckchen beschränkt hatten, das man uns zuwies, war alles bequem. Von dem Moment an, in dem wir den Kopf hoben, Orte besetzt haben, angefangen haben zu sprechen, zu fragen, fingen wir an zu stören. Dazu stehen Familien für das Agrobusiness, den heute wichtigsten Wirtschaftszweig des Landes. Eine zerstörerische Aktivität, in höchstem Maße umweltverschmutzend und auf den Auslandsmarkt ausgerichtet. Im Moment müssen sie sich, um ihre hohe Rentabilität zu erhalten und nachdem sie die Böden ausgelaugt und fast die gesamte Region des Cerrado verwüstet haben, auf indigene Territorien und das Amazonasgebiet ausdehnen. Goiânia ist Kernland des Agrobusiness. Wir sind Teil des Cerrado, wir sind wie die Bäume dort. Wenn diese Landschaft meiner Ansicht nach kurz vor der Vernichtung steht, steht auch unser eigenes Ende bevor.

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