Selbstfindung
Oberwasser

Stadtbad Tiergarten
© Pao-Chang Tsai

Als Kind hat Pao-Chang Tsai an der Tainaner Jinsyue-Grundschule schwimmen gelernt und kann sich nur an schlechte Erfahrungen erinnern. Jetzt kommt er nach Berlin und im Wasser fängt er an, doch Spaß zu haben.

Als Kind habe ich an der Tainaner Jinsyue-Grundschule schwimmen gelernt. Ich kann mir nur noch weniges aus jener Zeit ins Gedächtnis rufen und die Bruchstücke, die ich dabei verdrängen möchte, sind wenig schön: Wir hatten einen Schwimmlehrer bekommen, bei dessen Erinnerung sich mein Herz immer noch verfinstert. (Wir Skorpione sind sehr gut darin, uns selbst Wunden zuzufügen) Ich weiß noch wie wir Kinder uns zu jeder Unterrichtsstunde im flacheren Bereich des Beckens versammelten, bevor jener Lehrer am anderen Ende ins Wasser hechtete (was ungemein fesch wirkte, wie ich zugeben muss) und seinen bulligen Leib sodann in geschmeidigen Schmetterlingszügen abwechselnd auf-, ab-, und schließlich zu uns aus dem Staunen nicht herauskommenden Landratten herüberwuchtete. Ich brauchte eine Woche bis mir dämmerte, dass der Lehrer ‚weiblich‘ — mit fürwahr einigen Abweichungen von typischem Damengebaren — war, aber diese Person hatte mir mit ihrem vom Betelnussgenuss rot eingefärbten Gebiss und einem unverkennbaren Ureinwohnerakzent, die sich gemeinsam mit einer Arekafahne manifestierten, wenn sie den Mund öffnete, die Unterscheidung auch nicht leicht gemacht, zumal ich damals noch keinerlei Lebenserfahrung hatte.
 
Da ich recht dick war, hatte ich nicht nur Angst davor, halbnackt und unkontrolliert im Wasser herumkugelnd und dabei unfreiwillig Brust und Bauch zur Schau stellend vorgeführt zu werden, sondern mehr noch davor, dass man auf mich als unsportlichen Grobmotoriker herabsehen könnte. Derlei Sorgen konnte das Pummelchen, das ich war, vorübergehend hinunterschlucken, doch das Schicksal schert sich nicht um die Begehren von Sterblichen und so wurde ich doch vom schlimmsten aller Alpträume heimgesucht und vor aller Augen lächerlich gemacht. Ich entsinne mich, wie die Schwimmlehrerin die Aufmerksamkeit der versammelten Kindergruppe auf mich lenkte und mich dabei namentlich herausstellte: „Seht euch das an, so ein schräges Kreuz, der ist ganz sicher nicht zum Schwimmer geboren.“ Und vollmundig ihr Betelnussaroma versprengend fuhr sie fort: „Du verschwendest nur unser aller Zeit. Also dann, ihr Übrigen schwimmt jetzt allesamt rüber ans andere Beckenende. Und du —“
 
wies sie vor versammelter Mannschaft auf mich.
 
„Du atmest schön rhythmisch und läufst hin.“
 
Ich weiß schon nicht mehr, ob ich dem Wasser jemals zugeneigt war. Zumindest hege ich eine Hoffnung dass es einmal so war. Möglicherweise hat diese Episode viel damit zu tun, dass ich als Erwachsener bei der Reisezielauswahl unbewusst das Wasser meide und es mich in die Berge zieht, während Strände und Küsten bei mir nicht viel Interesse hervorrufen. Der Himmel weiß wie sehr ich Leute bewundere, die schwimmen können, doch die Kombination aus meinem Sternzeichen und dem Kindheitstrauma steigert bei mir das Gefühl, dass es vor der aufgeblähten Präsenz meines Schicksals kein Entrinnen gibt, und zwar immer dann, wenn mir negative Energien entgegenschlagen.
 

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  • Stadtbad Tiergarten2 © Pao-Chang Tsai

  • Stadtbad Tiergarten © Pao-Chang Tsai

Warum ich mich nun in Berlin entschlossen habe, erneut schwimmen zu lernen, weiß ich auch nicht. Neben dem Deutschlernen ist es das einzige Ziel, das ich mir auf dieser Reise gesetzt habe, und jetzt da ich 34 Lenze zähle, verwandele ich mich möglicherweise auch allmählich von einem Skorpion in einen Stier. Manchen Dingen muss ich nun wohl einfach mit praktischeren Lösungsansätzen gegenübertreten.
 
 So habe ich mich nun für einen Erwachsenenschwimmkurs angemeldet, bei dem eine Schar Omas im Durchschnittsalter von 60 mich in ihr Damengeschwader aufgenommen hat, aus dem ich nicht nur optisch heraussteche, sondern in dem ich als Mustermoppel durch mein höheres Lerntempo so etwas wie unlauteren Wettbewerb betreibe. Unsere Trainerin Carola bringt uns vom Brustschwimmen angefangen alles bei, fällt aber gerade in einer Hinsicht etwas aus dem Rahmen:
 
Von der ersten bis zur letzten Unterrichtsminute — und zwar wirklich von Anfang bis Ende — geht sie nämlich  nicht ein einziges Mal ins Wasser.
 
Schwimmen erklären, ohne ins Wasser zu gehen? Es ist das erste Mal dass mir etwas Derartiges unterkommt. Vorschriftsmäßig lässt sie jeden Teilnehmer reihum einmal jede Übung machen: ‚Luftholen und im Wasser auf Nasenatmung umstellen‘, ‚Luftanhalten und auf dem Wasser treiben lassen‘, ‚die richtige Körperhaltung, wenn man die Luft nicht mehr anhalten kann und sich hinstellen muss‘, ‚beim Treibenlassen nach und nach die Beinarbeit dazubringen‘, ‚Änderung des Beinarbeitstempos in drei Schritten‘, und, und, und … Weil ein paar der Omas das Treiben an der Wasseroberfläche nicht so gut hinbekommen — eine Übung, die locker in 30 Sekunden zu machen ist — halten wir uns mit einigen Teilnehmern zuweilen bis zu drei Minuten auf. Wenn ich dann nach einer Viertelstunde immer noch nicht an der Reihe bin, kommt mir ein boshafter Gedanke: ‚Weshalb muss ich meine Zeit mit denen verschwenden und üben, was ich bereits beherrsche?‘
 
Wer noch nie in der Defensive war, der kann die Ungemach eines Hinterherhinkenden und den seelischen Schmerz eines Verlachten womöglich nicht nachvollziehen. Ob diejenigen hingegen, die schon einmal in die Position des Schwächeren geraten sind, die erlebten Rückschläge bei einem Leidensgenossen noch nachzufühlen in der Lage sind, sobald sie — wie ich in dieser ganzen Schwimmenlerngeschichte —  wieder ‚Oberwasser‘ bekommen oder sich von der ‚perfekten Welle‘ tragen lassen, das ist eine groteske Angelegenheit, und ich schwitze Blut und Wasser, wenn man mich damit konfrontiert.
 
Wer bereits Erfahrungen mit Schauspielunterricht sammeln konnte, wird mir beipflichten: Manchmal lernt man so einiges mehr, bloß indem man andere vom Rande aus beim Spielen beobachtet und sich die Bemerkungen des Lehrers zu Herzen nimmt. Doch funktioniert das auch beim Schwimmen? Ich weiß nicht — Irgendwie frage ich mich das.
 
Ich denke jedenfalls: Wenn die Kursgebühr nun schon entrichtet ist, hätte ich eigentlich ein Anrecht auf die Möglichkeit, gründlicher zu lernen, und kann verlangen, dass ich nach einer Methode instruiert werde, die meinen Wünschen entspricht. Also nehme ich meinen Mut zusammen, nachdem bereits die Hälfte der Stunde verstrichen ist, melde mich und wende mich an die Trainerin: „Carola! Mal angenommen ich bin bereits auf dem Level, auf das wir kommen sollen, könntest du mir dann nicht ein paar schwierigere Übungen geben, die ich nebenan machen kann? “
 
konfrontiere ich sie mit meinem Anliegen. Sie nickt kurz und fordert mich auf, mich in die Armbewegung zu vertiefen.
 
„Nicht vergessen, die Arme nach diesen drei Schritten einzusetzen“ sagt sie vom Beckenrand aus und führt mir den Ablauf als Trockenübung vor.
 
Als ich ihre Bewegungen im Wasser imitiere, bin ich mir noch etwas unschlüssig. Anscheinend habe ich es begriffen, aber was hat es mit diesem motorischen Gedächtnis auf sich, das mein Körper zu haben scheint, das ich aber keineswegs verstehe? Es überkommt mich ein wenig von einer Beklommenheit — und dazu ein bisschen auch eine Euphorie darüber, wie alles Vergangene von dem Wasser, das mit seinem leichten Chlorgeruch das Becken ausfüllt, hinweggespült wird, womöglich weil dies eine andere Zeit, ein anderer Ort ist?
 
Dem Bewegungsablauf nach einmal hin- und einmal hergeschwommen, werde ich von Carola zum Beckenrand dirigiert: „Paochang, so machst du es falsch. Ich weiß nicht, warum deine Arme gewohnheitsmäßig nach unten zu gleiten scheinen, aber so funktioniert es nicht. Du kommst so zwar einigermaßen voran, aber … es ist einfach nicht richtig. “
 
Ich weiß nicht wieso, aber als sie mich auf den Fehler in meiner Armbewegung hinweist, entströmt mir plötzlich eine jahrelang in meiner Psyche vergrabene Furcht und im lauwarmen Nass ergießt sich ein kalter Schauer. Ich täusche mit einem natürlich anmutenden Kopfnicken meine Kenntnisnahme vor, doch eigentlich kauere ich bloß eine ganze Weile verdattert dreinblickend im Wasser.
 
Was ist nun? Werde ich immer noch alles den anderen überlassen? Sind meine Wunden mir allesamt von ihnen zugefügt worden? Du bist nicht mehr in der Grundschule, klar? Lerne gute Absichten von bösen zu unterscheiden. Lerne, dass nicht jede Äußerung darauf abzielt, dir zu schaden.
 
Du hältst deine Arme nicht richtig, aber egal — Mit zehn hast du mal gehört, dass du ein hoffnungsloser Fall bist. Egal. Wir kriegen das hin … wir ‚versuchen‘ das hinzubekommen, so wie ich es den Schauspielschülern in der Stimmbildung oft nahelege: Der Mensch ist ein Gewohnheitstier, das sich nicht von einem Moment auf den nächsten einfach so umdressieren lässt. Unser Körper und sein Gedächtnis sind unglaublich träge und halten stur an ihren Gewohnheiten fest. Überwinden lässt sich dies lediglich mit Entschlossenheit, Ausdauer und viel Geduld — ganz langsam.
 
Nur keine Eile, ganz langsam. Ist das das Mantra, das wir mittelmäßigen, ehrgeizlosen, überhasteten Taiwaner im Ausland am nötigsten haben?
 
Der erste Versuch — ein kompletter Fehlschlag. Im zweiten Anlauf fehlt immer noch ein bedeutendes Stück. Der Tag allerdings, an dem sich die alten Angewohnheiten zum Positiven ändern, kommt bestimmt — Wenn wir nur beginnen uns zu besinnen und an uns zu arbeiten. Die Schuld einfach in alten Gewohnheiten zu suchen ist das, was wir in diesem Moment am wenigsten brauchen. Ganz im Gegenteil sollten wir uns diese Gewohnheiten im positiven Sinne zunutze machen: Jene ‚Fehler der Vergangenheit‘ verschaffen der ‚Gegenwart‘ klarere Maßgaben und lassen uns verstehen, warum wir seinerzeit ‚so ineffizient‘ waren, die Dinge uns nun jedoch ‚leichter von der Hand gehen‘.

Eine Erfahrung, die ich auf meinem Berlin-Intermezzo möglichst zurückgewinnen möchte ist die, mich nach meiner ganz eigenen Tempovorgabe erneut selbst zu definieren.
 
Ich schwimme einige Bahnen und gleite mit letzter Kraft und ein paar schweren Atemzügen an den Beckenrand. Gelassen blicke ich auf die Omas, sehe wie sie sich weiterhin damit mühen, sich richtig treiben zu lassen, und wie die anderen Badegäste unterschiedlichster Couleur in den verschiedensten Schwimmstilen ihre Bahnen ziehen, wie sie vergnügt und zügellos umherwirbeln.
 
Unbewusst geraten meine Mundwinkel dabei in Verzückung. Ich bin stolz, es geht mir gut und ich … liebe das Wasser —
 
Das weiß ich jetzt wieder.

 

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