Berliner Theatertreffen
Warum soll ich in die Welt hinausgehen?

  • Berlin Theatertreffen: Warum soll ich in die Welt hinausgehen? © Pao-Chang Tsai

  • Berlin Theatertreffen: Warum soll ich in die Welt hinausgehen? © Pao-Chang Tsai

  • Berlin Theatertreffen: Warum soll ich in die Welt hinausgehen? © Pao-Chang Tsai

In den vergangenen Jahren hatte ich das große Glück, unablässig auf der Welt herumreisen zu können. Dennoch bin ich vor jedem Aufbruch sehr angespannt, vielleicht liegt auch gerade darin das Faszinierendste am Reisen: Man wird nie und kann auch nie genug davon haben, weil das Reisen immer in unterschiedlicher Form eine Herausforderung für unseren Alltag darstellt.
 
In den drei Tagen vor dem Internationalen Forum beim Berliner Theatertreffen versammelten sich 39 Theaterschaffende aus aller Welt und dem deutschsprachigen Raum und jeder hatte fünf Minuten Zeit, um sich und die eigenen Werke den anderen 38 Kolleginnen und Kollegen vorzustellen.
 
Ein äußerst interessanter Prozess.
 
Ich gehöre von meinem Charakter her immer zu denjenigen, denen es schwer fällt, sich und das eigene Schaffen zu „verkaufen“, das ist noch mehr der Fall, wenn ich in einer völlig neuen Situation eine Gruppe von „Künstlern“ kennenlernen soll. Meine Freunde sagen, dass ich zu denen gehöre, mit denen man „nicht leicht auskommen kann“ (aber ich verteidige entschieden meine Aussage, dass ich keinen „künstlerischen Charakter“ habe). Grundsätzlich hat das Internationale Forum vor allem das Ziel, damit zu beginnen, „Kontakte herzustellen“ - oder direkter ausgedrückt, „Beziehungen zu knüpfen“. Glücklicherweise bin ich inzwischen von der indignierten Haltung „ich finde, Beziehungen zu knüpfen, ist kriecherisch und verlogen“ zu der gesunden Einstellung übergegangen, „dass unsere Gesellschaft auf der Basis vielerlei Beziehungen funktioniert“. Solange ich aufrichtig an eine Sache herangehe, habe ich mein Möglichstes getan, auch wenn ein Gespräch und das Kennenlernen anderer Menschen nicht immer zur eigenen vollen Zufriedenheit verlaufen.
 
Das habe ich noch besser verstanden und erfahren im Kontakt mit Künstlern aus zwanzig verschiedenen Ländern, denn die meisten Theaterschaffenden arbeiten unter schwierigen Umständen, was ihre persönliche Situation und die Situation in ihren Ländern betrifft. Darunter gibt es viele wie wir, die in Taiwan aufgewachsen sind, die sich das nur schwer vorstellen können. Nach diesem Internationalen Forum begann ich sogar darüber nachzudenken, dass wenn ich in der Zukunft ein aufgeführtes Stück beurteile, dass ich dann auch unbedingt den historischen Kontext und die aktuellen gesellschaftlichen Bedingungen im Land eines Theaterschaffenden mit berücksichtigen muss, um nicht unausgewogen darüber zu urteilen.
 
Als Beispiel für einen neuen Freund, den ich bei diesem Forum kennengelernt habe, möchte ich Fawad nennen. Er ist ein Theaterschaffender aus Pakistan. Auf den ersten Blick wirken die Szenenfotos und der Stil seiner Stücke etwas einfach und eher traditionell. Doch wenn man ihm genau zuhört, wenn er von der Gegenwart der Militärdiktatur in Pakistan erzählt, dann lernt man seine Stücke aus einer anderen Perspektive heraus zu schätzen.
 
„Im vergangenen Jahr wurde eine befreundete Frau einfach so ohne erkennbaren Grund auf offener Straße erschossen,“ erzählte mir Fawad eines Tages, als wir zusammen in der U-Bahn saßen.
 
„Wie konnte das denn passieren?“, fragte ich.
 
„Jemand hatte zu einer öffentlichen Versammlung gegen das diktatorische Regime aufgerufen, die jedoch von den Militärbehörden verboten wurde. Daraufhin lud sie die Leute in ihr eigenes Café ein, um die Versammlung dort abzuhalten,“ erzählte Fawad, während sein Blick in die Ferne wanderte.
 
„Wenige Tage nach der Versammlung war sie verschwunden. Dann erhielten wir eines Tage die Nachricht, dass sie auf offener Straße erschossen worden war.“ Fawad berichtete weiter: „Das Militär schob die Schuld dafür einfach auf die Banden in der Stadt, aber uns war klar, dass die Tat das Werk des Militärs war. Sie unterdrücken rigoros jede Stimme, die sich ihnen entgegenstellt.“
 
„In Pakistan hat das Militär das Recht, in das Zuhause jedes Bürgers einzudringen und das Vermögen der Bürger zu ihrem Eigentum zu erklären.“
 
So, wie er da neben mir sitzt, ist der aus Karachi in Pakistan stammende Fawad ein warmherziger, kenntnisreicher und unterhaltsamer Kreativer. Seine Unzufriedenheit mit der Militärdiktatur zeigt sich in seinen Werken. Vor einigen Jahren hatte er ein Stück fertiggestellt, mit dem er die Menschen dazu anregen wollte, über die Militärdiktatur zu reflektieren und mit dem er sie in Frage stellte. Die Aufführung des Stücks ist seitdem verboten. Alle Theaterstücke, in denen das Tragen von Militäruniformen vorgesehen ist, müssen genehmigt werden. Natürlich bekommen nur solche Stücke diese Genehmigung, die darin ihr Loblied auf das Militär singen.
 
„Kann man wirklich nur unter Lebensgefahr der Theaterarbeit nachgehen?“, seufzte ich.
„Wir müssen trotzdem weitermachen und versuchen, kleine Löcher zu bohren,“ sagte Fawad.
 
Man kann sich nur schwer vorstellen, dass er, der überall, wo er hingeht, Visa beantragen muss und der aus einem Land kommt, dass sich in einer solch schwierigen Lage befindet, in der Berliner U-Bahn sitzt und eine so positive Energie und so viel Wärme ausstrahlt. Ich sehe die Entschlossenheit in seinen Mundwinkeln und fühle auf einmal ein Gefühl der Scham angesichts der vergleichsweise glücklichen Situation, in der ich mich befinde.
 
Der jetzt im Libanon lebende Eyad stammt aus Syrien und macht ebenfalls ganz ungewöhnliche Dinge. Er wuchs in den USA auf und konnte nicht in sein Land zurückkehren. Dennoch wollte er etwas für die arabische Kultur tun und startete daher sein Projekt „Triangles“: Von dem Bewusstsein über die Macht der Sprache ausgehend, demnach so wichtige Sprachen wie Englisch und Deutsch im Theater eine sehr starke Rolle spielen, hofft Eyad, dass er durch die Aufführung von übersetzten Stücken es anderen Sprachen, die in einer schwächeren Position sind, ermöglicht, auch wahrgenommen zu werden. Im vergangenen Jahr begann er dieses Projekt, bei dem in einer ersten Phase die Sprachen Englisch, Arabisch und Amharisch (die Amtssprache in Äthiopien) das Projekt „Triangles“ bilden. Ganz im Stillen setzte er diesen Austausch in Gang, der in diesem Jahr schon erste Früchte trägt, da die Werke äthiopischer Dramatiker in den USA offiziell erscheinen werden.
 
Ganz unterschiedliche Kreative nehmen Anteil, reagieren auf oder widersetzen sich dieser in ihren Augen unfairen und ungerechten Welt und sie tun dies auf ihre jeweils ganz eigene Weise. Das mag sich vielleicht merkwürdig anhören, aber auf gewisse Weise „beneide“ ich sie. Es hört sich möglicherweise wie eine abgedroschene Phrase an, doch das allzu angenehme Leben unter einer Käseglocke ist für das kreative Schaffen absolut keine Hilfe.
 
Ich erinnere mich dabei an das, was der Berliner Schauspieler Raphael, mit dem ich in Taipei einmal zusammengearbeitet habe, sagte, als wir gerade zu zweit eine Q&A-Session hatten. Für die Berliner seien Genderfragen schon ein altes Thema, an das sich alle schon gewöhnt hätten, aber er sagte auch: „Ich habe schon lange nicht mehr das Gefühl, dass das Theater in der Gesellschaft noch irgendetwas bewirken kann. Es gibt keine Tabus mehr, die absonderlichsten Dinge rufen kein Erstaunen mehr hervor. Das ist das Resultat von zu viel Freiheit, so als ob nichts mehr wichtig wäre. Allerdings spüre ich, jetzt hier in Taiwan, wenn es in der öffentlichen Diskussion um Genderfragen geht, dass das in der Gesellschaft immer noch etwas bewirkt und von Nutzen ist, das kann ich ‚spüren‘, wenn ein entsprechendes Stück auf die Bühne kommt.“
 
Natürlich hat jeder, der sich auf ein Abenteuer einlassen will, seine Grenzen. Ich als Normalo stellte ihnen natürlich die blöde und kränkende Frage: „Also...der Ort, an dem ihr lebt...ist es da sicher?“
 
„Karachi ist sehr groß, in den vergangenen zehn Jahren und mehr gab es jeden Monat Bombenattentate...ich hatte Glück, auch meine Familienangehörigen und Freunde waren bis jetzt nicht davon betroffen,“ sagte Fawad. „Natürlich werde ich dir nicht sagen, dass es ein sicherer Ort ist. Aber wir sind alle immer noch dort und bemühen uns, unser Leben zu leben.“
 
Eyad, der jetzt im Libanon lebt, verdrehte die Augen etwas, schaute mich mitleidig an und sagte ganz ruhig: „Warum sollte ich an einem unsicheren Ort leben wollen, kannst du mir das sagen?“
 
Ich schämte mich für meine Ignoranz. Und ich spürte nun grenzenlose Bewunderung für meine neuen Freunde aus diesen weit entfernten Ländern, die ihre Geschichte mit mir teilten. Der berühmte griechische Regisseur Theodoros Terzopoulos sagte einmal, dass er, als er Anfang 30 war, die inzwischen verstorbene deutsche Choreographin Pina Bausch und den japanischen Theaterregisseur Yukio Ninagawa kennenlernte und von der Zeit an hätten sie sich von ihrem jeweils eigenen Land aus über ihre Werke und ihre Kunst gegenseitig kennen- und schätzen gelernt.
 
„Wir sind jetzt selbst gerade Anfang 30, ich denke, das ist ein sehr guter Zeitpunkt, um unseren Dialog sich entwickeln zu lassen. Ich hoffe, dass wir in den kommenden zehn, zwanzig oder sogar dreißig Jahren unsere Arbeit an unserem jeweiligen Ort fortsetzen, unseren Dialog weiterführen und uns weiter Gehör verschaffen können.“
 
Das war das Ende meiner fünfminütigen Selbstvorstellung.

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