Interview mit Tsai Ming-liang
Zwischen Fiktion und Realität

Your Face
Foto: Trailer/Screenshot

Der taiwanische Filmemacher Tsai Ming-liang hat auf der Biennale seinen neuen Film Your Face gezeigt. Wir haben uns mit ihm getroffen und über die Kraft von Bildern, die Grenze zwischen Fiktion und Realität und die aktuelle Filmlandschaft gesprochen.

Goethe-Institut: Was fasziniert Sie so an Gesichtern?

Gesichter sind ein wesentliches Merkmal filmischen Erzählens. Für die Vorführung meines Films in Venedig wollte ich deshalb einen Saal mit exzellenter Bild- und Tonqualität, denn wie der Film projiziert wird, ist mir sehr wichtig. Unsere Sehgewohnheiten entwickeln sich zwar immer weiter, aber sie werden auch immer oberflächlicher. Beispielsweise sehen wir Filme auf Handys. Dabei verliert ein Film jegliche Kraft. Ich denke, wichtig ist die Idee des Autors, seine Art zu sehen, im Gegensatz zur kommerziellen Sehgewohnheit, die heute verbreitet ist.

Goethe-Institut: Wo haben Sie die Gesichter für Ihren Film gefunden?

Nach und nach auf der Straße. Viele Leute gehen an einem vorüber, aber dann gibt es plötzlich ein Gesicht, was heraussticht, was du länger betrachten möchtest. Es gab keine Fotos oder Probeaufnahmen vorher, die Auswahl passierte intuitiv. Zum Beispiel die Frau mit den dritten Zähnen. Man sieht sofort, dass ihre Zähne nicht echt sind und vielleicht ist ihre Perlenkette auch falsch. Aber sie ist schön. Warum es ausgerechnet diese Leute sind, ist für mich schwer zu sagen. Als Regisseur weiß man einfach, warum man ein Gesicht aus der Menge pickt, weiß um seine filmischen Qualitäten. Das heutige Schönheitsideal ist so starr. Ich finde, ein Gesicht ist eher wie ein Baum: Je länger er lebt, desto schwieriger die Unterscheidung zwischen schön und häßlich. Ich bin bei meinen Großeltern aufgewachsen und um mich herum gab es immer alte Leute, das hat mich für das Alter sensibilisiert. Ich liebe es, alte Menschen oder alte Schauspieler anzusehen. Ihre sichtbare Lebenserfahrung berührt mich. Ich habe mich zu ihnen gesetzt, mit ihnen Zeit verbracht, sodass sie mir vertraut haben und gespürt haben, dass ihr Gesicht wichtig ist.

Die Darsteller in Your Face haben nichts spezifisch Dramatisches oder Theatralisches, im Gegenteil, es ist ihre Natürlichkeit, ihre Wahrhaftigkeit, die sie so anziehend macht. Sie sind ungeschminkt und unbeschwert. Filme behandeln ja oft etwas Besonderes, dabei finde ich das Banale, Alltägliche besonders gut. Dass ich so oft Lee Kang-sheng filme, ist für mich ganz normal, weil mich dieses Gesicht fasziniert. Es nimmt einen gefangen, lässt nicht mehr los. Aber es war so nicht geplant. Ihn diesmal zu filmen, war schwierig. Aber den Film ohne ihn zu machen, wäre nicht in Frage gekommen. Er ist noch nicht 60, also viel jünger als die anderen Darsteller. Sein Gesicht war schon so oft zu sehen. Aber ich habe jeden meiner Filme für ihn gemacht und sein Gesicht anzusehen ist mir wichtiger als eine Geschichte zu  erzählen.

Goethe-Institut: Sie sagen selbst, dass der Film weder ein Dokumentarfilm noch ein Spielfilm sei. Ist die Frage nach der Grenze zwischen beiden damit überflüssig?

Ja, viele denken, dass ich schon lange keinen Film mehr gemacht habe und das nur, weil ich keine Spielfilme gemacht habe. Ebenso kann ich fragen: Was ist ein Langfilm und was ein Kurzfilm? Ich erhalte des öfteren Kurzfilmangebote. Und dann drehst du und drehst und auf einmal ist es ein Langfilm. Nicht die Länge des Films ist entscheidend, sondern die Kraft seiner Bilder. Viele meiner Einstellungen hätten nicht die gleiche Kraft, wenn sie ein paar Minuten kürzer wären. Für mich ist Filmemachen etwas Schönes, weil ich das mache, was ich will. Ich weiß nicht immer, wohin das führt, aber wenn etwas nicht stimmt, merke ich es.

Dass ich so oft Lee Kang-sheng filme, ist für mich ganz normal, weil mich dieses Gesicht fasziniert. Es nimmt einen gefangen, lässt nicht mehr los. Aber es war so nicht geplant. Ihn diesmal zu filmen, war schwierig. Aber den Film ohne ihn zu machen, wäre nicht in Frage gekommen. Er ist noch nicht 60, also viel jünger als die anderen Darsteller. Sein Gesicht war schon so oft zu sehen. Aber ich habe jeden meiner Filme für ihn gemacht und sein Gesicht anzusehen ist mir wichtiger als eine Geschichte zu erzählen.

Goethe-Institut: Was sagen Sie dazu, dass viele Zuschauer bei Ihren Filmen einschlafen?

Ist mir egal. Ich habe sogar selbst Schlafaktionen durchgeführt. Mehr als 1000 Leute kamen da zum Übernachten mit ihrem Schlafsack ins Museum und wenn sie mitten in der Nacht aufwachten, lief mein Film, sie konnten ein bisschen sehen und dann wieder einschlafen. Ich wollte die Zuschauer langsam dazu bringen, Filme nicht gleich abzulehnen, wenn sie nicht voller Action sind. Das vorurteilsfreie Sehen ist in Asien schwierig, ein Film, der nicht auf den ersten Blick spannend ist, hat einen schweren Stand. Andernorts gibt es Filme oder Ausstellungen, die nicht jeder versteht, aber die Leute akzeptieren solche Werke auch wenn sie selbst diese nicht verstehen. Das liegt nämlich vielleicht an ihnen und nicht am Werk. In der Tat können wir Schönheit nicht immer verstehen, ähnlich geht es uns mit der Natur. In Asien gibt es keine ästhetische Erziehung, deshalb ist unser Schönheitsbegriff recht konventionell.

Goethe-Institut: In einer langen Einstellung in der letzten Szene sehen wir, wie das Licht in einer großen Halle langsam aus- und wieder angeht: Warum das?

Ich finde Gesichter und Gebäude gleichermaßen spannend. Wenn ich ins Museum gehe, mag ich nicht, wenn die Räumlichkeiten extra für die Ausstellung verändert werden. Beim Filmdreh achte ich nicht so sehr darauf, wie die Darsteller spielen, Hauptsache es fühlt sich richtig an, aber der Raum ist für mich sehr wichtig und ich würde ihn nie verändern. Meine Filmsets sind nicht nach einer Idee angefertigt, sondern etwas Gefundenes, in dem ein Mensch leben kann. Dem entspricht diese letzte Szene: Man wartet auf den Tag und wenn die Zeit nicht reicht, dann werden einige Dinge halt nicht fertig. Das ist die Ewigkeit verglichen mit der wirklichen Zeit. Der Herr im Himmel kann das mit der Ewigkeit etwas besser und deshalb sage ich, dass er mein künstlerischer Berater ist.

Goethe-Institut: Auffällig ist die Filmmusik. Wie muss ich mir die Zusammenarbeit mit Ryuichi Sakamoto vorstellen?

Alles außer den O-Tönen und dem Stühlerücken ist von Ryuichi Sakamoto komponiert. Als er zu dem Projekt hinzukam, konnte er keinen Einfluss mehr darauf nehmen. Er hat den fertigen Film gesehen und dann die Musik geschrieben. Weder dominieren meine Bilder die Musik, noch umgekehrt. Sakamoto hat meine Absichten intuitiv gespürt, obwohl wir vorher nicht in Verbindung standen. Ich habe ihm den Film geschickt und einen Monat später kam seine Musik zurück. In einer E-Mail schrieb er mir, dass er mir freistelle, die Musik ganz, in Teilen oder gar nicht zu benutzen. Schließlich verwendete ich 90 Prozent ungeschnitten, ich verließ mich dabei ganz auf sein Gefühl.

Ich denke, die Sprache in dem Film ist zugleich wichtig und unwichtig. Wenn man hinhört, was gesagt wird, ist das spannend. Aber es geht hier um kein konkretes Thema und das heißt, dass die Sprache musikalische Qualität hat. Sie funktioniert wie ein Lied. Es ist, als hätte Ryuichi Sakamoto neben mir gesessen und die Bilder und O-Töne instrumental begleitet.

Goethe-Institut: Was denken Sie über die aktuelle Filmlandschaft?

Viele Filme verbinde ich nicht mit dem, was Film eigentlich ausmacht, sie sind einfach eine Ware. Dabei lehne ich kommerzielle Filme nicht ab. Gerade westliche Mainstreamfilme sind oft sehr gut. Wenn wir die Filme vor 1990 mit den jetzigen vergleichen, stellen wir allerdings große Unterschiede fest: Viele Filme von heute haben nichts mehr mit uns selbst zu tun. In den 1950er Jahren gab es kaum ausgebildete Filmemacher, aber sie waren inspirierend und stilbildend. Die besten Martial-Arts-Filme wurden von solchen Leuten gedreht und nicht von irgendwelchen "Kaufleuten". Heute muss ein Film immer größer und besser sein als die anderen. Früher war jeder Film etwas Besonderes, heute gibt es einfach zu viele.

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