Die sprichwörtliche deutsche Ordnung
Gibt es sie wirklich?

Ordnung verbindet sich mit Sicherheit, Ruhe, Recht und Disziplin, aber auch mit Pflicht.
Ordnung verbindet sich mit Sicherheit, Ruhe, Recht und Disziplin, aber auch mit Pflicht. | Foto: Pexels

Auf der Suche nach der sprichwörtlichen deutschen Ordnung befrage ich Deutsche und in Deutschland lebende Ausländer, welche Beziehung sie zum Thema Ordnung haben. Außerdem versuche ich zu ergründen, woher dieses Stereotyp stammt und wie es sich verbreitete.

Die aus London stammende Olivia, die seit 30 Jahren in Berlin lebt: „Ordnung ist, wenn mein deutscher Zahnarzt, zu dem ich seit 20 Jahren gehe, mich nach wie vor siezt, obwohl ich ihn schon seit Langem mit dem Vornamen anspreche.“

Alexandra aus Oberursel: „Dass keine Reklametafeln an den Straßen stehen.“

Annie aus Manchester, die den Großteil ihres Lebens in München verbracht hat: „Wenn in der Hausordnung steht, dass ich nach 22 Uhr nicht mehr duschen darf, um die anderen Bewohner nicht zu stören. Aber dafür habe ich direkt vor meiner Haustür einen Bus und eine U-Bahn, die mich in jeden Teil der Stadt bringen, und zwar pünktlich!“

Lena aus Ungarn, die im Rahmen eines Erasmus-Stipendiums in Köln studiert: „Ordnung ist, wenn man seine Flaschen in Weißglas, Grünglas und Braunglas sortiert.“

Justyna, eine Polin aus Ingolstadt, der Heimat Frankensteins und des Audi-Werks: „Das Gefühl von Sicherheit, das Einsammeln von Hundehaufen. Aber leider auch verspätete Busse.“

Martin aus Australien, ein Flugkapitän, der regelmäßig nach München fliegt. „Ordnung ist die Überzeugung, Recht zu haben und andere belehren zu müssen – auch dann, wenn man im Unrecht ist.“

Peter aus Hessen: „Klare Regelungen in Ämtern und Behörden – sowohl für Beamte als auch für Bürger. Wenn etwas nicht geht, dann geht es nicht. Da helfen auch keine Bitten, keine Weinkrämpfe, keine Briefumschläge und kein Cognac.“

Bogdan, ein polnischer Koch auf der Insel Rügen: „Mit der deutschen Ordnung ist es nicht mehr so weit her. Die ältere Generation stirbt aus, und mit ihr auch die Disziplin und die Ordnung.“

José, ein spanischer Ingenieur aus Ingolstadt: „Ordnung bedeutet, leise zu sein. In Spanien muss es laut zugehen, wenn man feiert, hier ist es umgekehrt.“

Ordnung ist die Überzeugung, Recht zu haben und andere belehren zu müssen – auch dann, wenn man im Unrecht ist.
Ordnung ist die Überzeugung, Recht zu haben und andere belehren zu müssen – auch dann, wenn man im Unrecht ist. | Foto: Pexels
Amel aus Libyen, der als Kinderarzt in einer Klinik in Cuxhaven arbeitet: „Ordnung ist, wenn du deine Bekannten, die mit dir Tür an Tür wohnen, vorher anrufen musst, um zu fragen, ob du sie besuchen und sie zum Essen einladen darfst. Und die Papierberge in den Ämtern, wo für alles und jedes ein Dokument benötigt wird.“

Frank, ein Taxifahrer aus Dresden mit türkischen Wurzeln: „Kein Tempolimit auf den Autobahnen, aufmerksame Fahrer und wenig Unfälle.“

Dirk, ein in Leipzig geborener Unternehmer: „Wenn dir dein Kind sagt, dass es vor dem Haus Limonade verkaufen möchte, um sich etwas Geld zu verdienen, und du dir, anstatt dich zu freuen, Gedanken machst, ob das auch legal ist und welche Gesetze dabei zu beachten sind.“

***

Als Olivia, die heute als Unternehmerin und Rhetorikcoachin arbeitet, mit ihrer Familie nach Berlin kam, fiel draußen dichter Schnee und die Kälte kniff ihr in die Wangen. Berlin war damals noch nicht Hauptstadt, und Ausländer waren auf den Straßen kaum zu sehen (heute liegt der Ausländeranteil bei knapp 25 Prozent).

„Ich war in London aufgewachsen und hatte bei der BBC und für einige Medienfirmen gearbeitet. Berlin erschien mir damals als ein großes Dorf. Ich sprach kaum Deutsch und verstand auch die deutsche Mentalität nicht. Als man mir also bei der Ausländerbehörde als Erstes ein Dokument in die Hand drückte, auf dem stand, dass mein Ehemann für mich finanziell verantwortlich sei, fühlte ich mich zum ersten Mal in meinem Leben wie eine typische Hausfrau“, erinnert sie sich.

Was Olivia nicht besonders gefiel, denn ihre rebellische Natur stand von Anfang an auf Kriegsfuß mit dem deutschen Ordnungsgeist. „Anfangs hatte ich Probleme im Straßenverkehr, weil wir in England auf der linken Seite fahren. Dann machte mich jemand darauf aufmerksam, dass in Deutschland sämtliche Autos in Fahrtrichtung geparkt sind. Das erschien mir merkwürdig: In London parkt jeder dort, wo er gerade einen freien Platz findet. Einmal parkte ich zum Trotz auf der falschen Straßenseite und erhielt prompt einen Strafzettel“, erzählt sie. Vor einiger Zeit wurde sie in der Berliner Innenstadt von der Polizei angehalten, weil sie bei Rot die Straße überquert hatte. „Dabei war weit und breit kein Auto in Sicht!“, empört sich Olivia. „In London ist so etwas kein Problem. Hier zahlt man fünf Euro Strafe und erntet jede Menge vorwurfsvolle Blicke. Wahrscheinlich ist das die günstigste Gelegenheit, sich wie ein echter Revolutionär zu fühlen. Ich kann das nur empfehlen, kommt alle nach Deutschland!“, lacht die Britin.

Doch es gibt auch die andere Seite der Medaille. „Wenn im Supermarkt eine zusätzliche Kasse geöffnet wird, gibt es Hauen und Stechen“, fügt Olivia hinzu. „Oder du gehst im Park mit deinem Kind spazieren, und plötzlich liegt vor dir eine Gruppe Nudisten auf der Wiese. Einerseits Ordnung und andererseits Freikörperkultur. Warum darf man nackt im Park liegen, aber zum Beispiel nicht nackt ins Geschäft gehen?“, fragt sich Olivia.
Sämtliche Autos sind in Fahrtrichtung geparkt.
Sämtliche Autos sind in Fahrtrichtung geparkt. | Foto: Pexels
Der amerikanische Reporter Joe Baur, der ganz Deutschland bereist hat und bereits seit vier Jahren in der deutschen Hauptstadt lebt, die heute die viertgrößte Stadt der Europäischen Union und ein Anziehungspunkt für Touristen aus aller Welt (mit 177 Museen!) ist, hat auf diese Frage eine Antwort.

„Sogar in Berlin, einer Stadt, die nach wie vor ein Anziehungspunkt für all jene ist, die den Geist der Freiheit und der Anarchie spüren wollen, herrschen strenge, wenn auch ungeschriebene Gesetze“, sagt er. „Du möchtest die Berliner Mauer bemalen? Bitte sehr, im Mauerpark gibt es einen speziell dafür bestimmten Bereich. Du willst nackt herumlaufen? Dann geh in den Tiergarten. Oder vielleicht willst du Sex mit Unbekannten? Dann besuche einfach einen der entsprechenden Berliner Clubs. Du darfst hier alles tun, solange du es an dem dafür vorgesehenen Ort tust.“

„Das hat etwas mit dem besonderen Ordnungssinn der Deutschen zu tun, und mit ihrem Pragmatismus: Es geht nicht so sehr darum, Verbote auszusprechen, sondern darum, dass alles seine Zeit und seinen Ort hat. Und eben deswegen wirst du sofort zurechtgewiesen, wenn du dich im Ruhebereich der Bahn mit jemandem unterhältst, während es niemanden stört, wenn du dir in der Berliner U-Bahn ein Bier aufmachst – gemäß dem ungeschriebenen Gesetz, dass Alkoholgenuss in der Öffentlichkeit allgemein akzeptiert ist“, erklärt Joe.

Alles in Ordnung

Zu meinem Treffen mit Tanja, die aus Augsburg stammt – einer Hochburg der Reformation, der Geburtsstadt von Mozarts Vater und der Heimat der besten schwäbischen Spätzle – verspäte ich mich um 16 Minuten.

Als ich sie frage, was für sie Ordnung bedeutet, nennt sie an erster Stelle Pünktlichkeit: „Wenn ich mich in Deutschland mit jemandem für zehn Uhr verabrede, dann verstehen die meisten darunter Punkt zehn Uhr und nicht 10:01 Uhr oder 10:16 Uhr“, sagt Tanja, und ich schaue beschämt zu Boden. „Und sobald wir einmal einen bestimmten Termin gemacht oder eine bestimmte Reglung getroffen haben, versuchen wir auch, sie einzuhalten“, fügt sie hinzu.

Vor sieben Jahren kam Tanja gemeinsam mit ihrem Mann nach Polen, heute arbeitet sie als Dozentin an einer renommierten Warschauer Business School. „Ich war überrascht darüber, dass die hiesigen Studenten ständig versuchten, Termine zu verhandeln oder zu verschieben. Oder dass mein Friseur oder mein Zahnarzt mich plötzlich anrief und fragte, ob ich nicht etwas früher kommen könne, weil jemand anders seinen Termin nicht wahrgenommen hatte“, erzählt sie. Sie macht keinen Hehl daraus, dass sie sich nach klaren, eindeutigen Regeln sehnt. „Regeln und Vereinbarungen machen das Leben planbarer und sicherer“, erklärt sie. „Wenn wir uns in Deutschland bei jemandem erkundigen, wie es ihm geht, fragen wir ihn: »Alles in Ordnung?«. Wenn ich eine bestimmte Zusage oder einen bestimmten Termin nicht einhalten kann, habe ich das Gefühl, dass mein Leben »unordentlich« und außer Kontrolle geraten ist.“
Regeln und Vereinbarungen machen das Leben planbarer und sicherer.
Regeln und Vereinbarungen machen das Leben planbarer und sicherer. | Foto: Pexels

Ordnung muss sein

Peter, mein nächster Gesprächspartner, scheint mir besonders ordentlich zu sein. „Ein sauberer Küchentisch, ein leeres Spülbecken und ein Wohnzimmer, in dem alles an seinem Platz steht“, zählt mir die Dinge auf, die für ihn Ordnung im privaten Bereich bedeuten. Auch das Geschirr ist für ihn wichtig: Er räumt er ordentlich nebeneinander in die Spülmaschine ein, um den Platz bestmöglichst auszunutzen. „Es soll logisch, ökonomisch und dazu noch absolut sauber sein. Wenn meine Frau das Geschirr in die Spülmaschine einräumt, gehe ich abends noch schnell in die Küche und sortiere alles nach meinem System um. Vielleicht ist das ein Spleen oder vielleicht ein Ausdruck des »deutschen Ordnungsgeistes«“, lacht Peter.

Peter liebt zwar die Ordnung, doch die Redewendung „Ordnung muss sein“, ist ihm bisher eher im Ausland als zu Hause begegnet. „In Deutschland müssen wir nicht groß darüber reden, weil es ein fester Bestandteil unseres Leben ist“, sagt er. Peter stammt aus Schwaben, einer Region, in der Ordnung und Solidarität traditionell eine noch größere Rolle spielen als in anderen Teilen Deutschlands. Dort gilt nach wie vor die „Kehrwoche“: Gemeinschaftlich benutzte Bereiche wie Treppenhäuser und Gehwege werden im wöchentlichen Wechsel von den Bewohnern gereinigt. Zu Peters Jugendzeiten galt ein ungepflegtes Auto als ein Zeichen von Schludrigkeit, deshalb wurde am Samstag traditionell das Auto gewaschen.

Heute wäscht niemand mehr sein Auto auf der Straße, weil es verboten ist. Und Peter lebt auch nicht mehr in Schwaben, sondern in Hessen, und auch nicht mehr in einem Einfamilienhaus, sondern gemeinsam mit seiner Frau und seinem Sohn in einem Mehrparteienhaus, in dem streng auf die Einhaltung der Sonntags-, Mittags- und Nachtruhe geachtet wird. Wie streng, davon konnte sich Peter überzeugen, als sich eine Nachbarin aus einer Wohnung zwei Stockwerke unter ihm bei im beschwerte, weil er am Sonntag ein IKEA-Regal zusammengebaut hatte – dabei hatte er extra einen Gummihammer benutzt, um ja keinen Lärm zu machen.

Auch in der Schule, in der Peter Physik unterrichtet und deren Schüler zu 90 Prozent nichtdeutscher Herkunft sind – und somit unterschiedlichen Religionen und Traditionen folgen – gelten feste Regeln. „Nationalistische und diskriminierende Äußerungen sind absolut inakzeptabel und werden im Keim erstickt. Es werden Gespräche mit den Schülern und Eltern geführt, und wenn das nicht hilft, werden auch Strafen ausgesprochen“, erzählt Peter. „Multikulturalität funktioniert nur dann, wenn alle sich an gemeinsame Regeln halten“, fügt er hinzu.

Wenn man bedenkt, dass Deutschland zu den 20 dicht besiedeltsten Ländern der Erde gehört (Deutschland hat 83,16 Millionen Einwohner auf einer Fläche von 357,37 Quadratkilometern, Polen 37,95 Millionen Einwohner auf einer Fläche von 312,67 Quadratkilometern, Quelle: Eurostat), ist die Gesetzestreue der Deutschen nicht weiter verwunderlich. „Ein französischer Kabarettist hat einmal gescherzt, dass es die Berliner Mauer gar nicht gebraucht hätte – man hätte lediglich ein paar rote Ampeln aufstellen müssen“, sagt Peter grinsend.
Ordnung im privaten Bereich bedeutet für Peter unter anderem, dass alles an seinem Platz steht.
Ordnung im privaten Bereich bedeutet für Peter unter anderem, dass alles an seinem Platz steht. | Foto: Pexels

 

„Doch diese Ordnungsliebe kann auch leicht in Pedanterie ausarten“, räumt Peter ein. Deshalb hält er die verschiedenen Einwanderungswellen – zum Beispiel von Italienern und Türken in den Sechzigern, Polen in den Neunzigern und zuletzt von Flüchtlingen aus dem Nahen Osten – für ein belebendes Element. „Die Zuwanderer bringen eine kulturelle Vielfalt in unsere Gesellschaft, nehmen jedoch gleichzeitig unsere Ordnung an“, resümiert Peter. Dann steht er auf, und ich frage mich, ob er jetzt in die Küche geht, um das Geschirr in der Spülmaschine umzusortieren.

Eine Bundesrepublik

Wie vielfältig Deutschland ist, wird mir bewusst, wenn ich aus dem Fenster des Reisebusses blicke, der mich von Berlin nach München bringt. Oder wenn ich die Menschen betrachte, die mir am Bahnhof begegnen. Und wenn ich touristische Broschüren lese: „Deutschland war einst in zahlreiche Fürstentümer zersplittert, die sich 1871 zum Deutschen Reich zusammenschlossen, um später 1919 zur Weimarer Republik, zum Dritten Reich und schließlich zum geteilten Deutschland zu werden. Erst seit 1990 ist Deutschland wieder ein geeintes Land (...)“.

Auch Alexandra, die in Oberursel unweit von Frankfurt am Main lebt und als IT-Forensikerin arbeitet, überzeugt mich von der Vielfalt Deutschlands und der großen Bedeutung regionaler Identitäten. „Die Mentalität, Sprache und Lebensweise der Schwaben ist fest im Protestantismus verwurzelt, der großen Wert auf Fleiß und Disziplin legt. Die Schwaben unterscheiden sich stark von den nur 50 Kilometer entfernt, unweit der französischen Grenze lebenden Badenern, die alles etwas leichter nehmen, und von den traditionsbewussten und wohlhabenden Bayern.“

„Deutschland trägt nicht umsonst die Bezeichnung Bundesrepublik im Namen. In gewissen Dingen sind sich die Deutschen sehr ähnlich, in anderen unterscheiden sie sich stark voneinander“, erklärt Alexandra. „Man kann also nicht alles in einen Topf mit der Aufschrift »Ordnung« werfen“, sagt sie. Wie zum Beweis führt sie mich durch ihre Nachbarschaft. Neben einer Plattenbausiedlung stehen gepflegte Einfamilienhäuser, daneben gleichförmige Reihenhäuser und am Ende der Straße erhebt sich eine krakenförmige Villa aus dem Dickicht. Und ein Stück weiter befindet sich eine alte Trafostation, die zu einem Wohnhaus umgebaut wurde, das mit 14 m² als kleinstes freistehendes Haus Deutschlands gilt. „Es gibt Ordnung, aber es gibt auch Fantasie“, sagt Alexandra.

Ihrer Ansicht nach äußert sich die Ordnungsliebe der Deutschen auch in ihrem Hang zur Schaffung von Strukturen und Vereinen. „Fast jeder Deutsche, den ich kenne, gehört mehreren Vereinen – wie zum Beispiel Sportvereinen, Bürgervereinen oder Tierzuchtvereinen – an oder singt in einem Chor“, erklärt sie. „Ich habe das Gefühl, dass den Deutschen organisierte Maßnahmen im Rahmen existierender Organisationen mehr liegen als spontane Aktionen. Das hat sich auch zu Beginn der Pandemie gezeigt. Es entstanden rasch lokale Hilfsaktionen, doch schon nach wenigen Tagen schlossen sich die Menschen bereits bestehenden Organisationen an, um bewährte Strukturen zu nutzen und effizient zu handeln“, erklärt sie.
In gewissen Dingen sind sich die Deutschen sehr ähnlich, in anderen unterscheiden sie sich stark voneinander.
In gewissen Dingen sind sich die Deutschen sehr ähnlich, in anderen unterscheiden sie sich stark voneinander. | Foto: Pexels

Ordinunga      

„Wir Deutschen haben die Ordnung gar nicht erfunden“, sagt Ruth Leiserowitz, eine deutsche Historikerin, die unter anderem Forschungen zur Geschichte des ehemaligen Ostpreußens betreibt. Ich treffe mich mit ihr, um mehr über die Ursprünge der sprichwörtlichen deutschen Ordnung zu erfahren. „Im Grunde haben wir den Begriff Ordnung nur deswegen übernommen, weil es unsere Vorfahren so entschieden haben. Die wilden, aufständischen Germanenstämme, die einst gegen die eng geschlossenen Formationen der römischen Legionen kämpften, hatten mit Ordnung eher wenig am Hut. Doch mit der Zeit übernahmen sie nicht nur die militärischen Formationen der römischen Armee, sondern auch das römische Rechts-, Staats-, und Münzwesen. Und so fand der Begriff »ordinunga« beziehungsweise »ordenunga« Eingang in die althochdeutsche Sprache“, erklärt die Historikerin.

Popularisiert wurde der Begriff von Martin Luther, dessen Bibelübersetzung und Schriften zur Gottesdienstordnung einen großen Einfluss auf die deutsche Sprache und ihre Benutzer hatten, insbesondere in den protestantisch geprägten Regionen, darunter auch Preußen.

Als Friedrich Wilhelm I. den preußischen Thron 1713 bestieg, waren Ordnung, Fleiß, Bescheidenheit und Gottesfürchtigkeit seine Leitmotive für die anschließende Reformierung und Sanierung des Staatswesens und des Militärs. Und so wurden diese in der protestantisch-calvinistischen Moral verwurzelten Eigenschaften schon bald als „preußische Tugenden“ und nach der Reichsgründung 1871 als „deutsche Tugenden“ bezeichnet. Der Begriff der Ordnung tauchte in philosophischen Traktaten, aber auch in Librettos und Gedichten auf. „Mit der Zeit verlor der Begriff zunehmend an Inhalt. Er entwickelte zu einem leeren Klischee zur Beschreibung der deutschen Kultur. Er tauchte in Kriegs- und Propagandaslogans auf, in denen er anderen, negativen Eigenschaften entgegengesetzt wurde, zum Beispiel in einer 1940 erschienen Broschüre mit dem Titel »Deutsche Ordnung und polnische Wirtschaft«. Durch solcherlei Missbrauch geriet der Begriff schließlich in Verruf“, erklärt die Historikerin.

Ordnungsamt

Unerschrocken von der Erkenntnis, dass die „deutsche Ordnung“ offensichtlich nichts weiter ist als ein Resultat historischer Umstände und nationalistischer Propaganda, setze ich meine Reise fort und treffe mich mit Henryk, einem polnischen Elektriker, der 1982 in die Freie Hansestadt Bremen kam – dem kleinsten deutschen Bundesland, das nur 60 Kilometer von der Nordsee entfernt liegt. Henryk arbeitete 25 Jahre lang im Bremer Mercedes-Benz Werk, in dem nach Angaben des TÜV-Reports 2020 die zuverlässigsten Autos produziert werden.

„Als ich mich dort bewarb, wurde ich zunächst nach meiner Ausbildung und nach meiner Berufserfahrung gefragt. »Elektriker«, antworte ich. »Elektriker haben wir so viele, dass sie bei uns die Fabrikhallen fegen könnten«. «Das kann ich gerne tun«, erwiderte ich, und meine Entschlossenheit gefiel dem Personalleiter so gut, dass er mich einstellte“, erinnert sich Henryk.

Doch zunächst musste sich Henryk an die deutsche Mentalität gewöhnen. „In Polen hatte ich in unterschiedlichen Betrieben gearbeitet. Dort arbeitete man so, dass man möglichst viel schaffte und möglichst schnell fertig wurde. Hier erhielt man eine bestimmte Aufgabe, die man in einer vorgegebenen Zeit erfüllen musste: »langsam und präzise«“, erzählt er.

Doch anfangs konnte er nichts weiter tun, als zuzuschauen. Sieben Tage lang folgte er seinem Meister wie ein Schatten und sah sich genau an, was auf dem Fließband geschah. Anschließend arbeitete er in der Motorhaubenproduktion und absolvierte Fortbildungskurse in den Bereichen Schweißen, Karosseriebau und Qualitätssicherung.
Es wird langsam und präzise gearbeitet.
Es wird langsam und präzise gearbeitet. | Foto: Pexels

 

„Und so habe ich mich nach oben gearbeitet: vom Fließbandarbeiter zum Vorarbeiter bis hin zum Qualitätsprüfer“, erinnert sich Henryk. Gemäß dem Prinzip „Vertrauen ist gut, aber Kontrolle ist noch besser“ prüfte er die in den einzelnen Abteilungen produzierten Bauteile. „Wenn eine Motorhaube ankam, kontrollierten wir auf beiden Seiten des Fließbands, ob sie richtig gepresst war und ob sämtliche Montageteile richtig produziert waren. Jeder Arbeiter hatte einen Stempel, mit dem er die von ihm hergestellten Teile kennzeichnete, damit jeder wusste, wer für welches Teil verantwortlich war. Mitte der 90er-Jahre wurde im Werk die Gruppenverantwortung eingeführt, von da an gab es Stempel für die jeweiligen Gruppen und nicht mehr für einzelne Mitarbeiter“, erklärt er.

Inzwischen ist Henryk im Ruhestand und überwacht nur noch sein Anwesen und seinen Garten. Von der Straße aus sieht man eine perfekt geschnittene Thujahecke und mehrere bunte Blumenbeete. „Die Menschen legen hier großen Wert darauf, dass es überall schön aussieht“, erzählt Henryk. „An Samstagen hört man überall das Dröhnen der Rasenmäher.“

Einmal im Jahr kann jeder seinen Sperrmüll auf die Straße stellen. Wer dies öfter tut, muss mit einem Besuch vom Ordnungsamt rechnen. „Die Mitarbeiter durchsuchen den Müll nach alten Rechnungen und Adressaufklebern, um Hinweise auf den Täter zu finden“, erklärt Henryk und nennt mir weitere Vergehen, bei denen das Ordnungsamt einschreitet. Viele von ihnen haben etwas mit Lärm zu tun.

Als typische Nachbarschaftsstreitigkeiten gelten handwerkliche Arbeiten in Ruhezeiten (zwischen 13 und 15 Uhr und zwischen 20 und 7 Uhr sowie an Sonn- und Feiertagen ganztägig) zu lautes Duschen oder Staubsaugen und sogar Hundegebell (Hunde dürfen täglich nicht länger als 30 Minuten und nicht länger als 10 Minuten ununterbrochen bellen).

Sämtliche Regelungen zur Ruhestörung und Zimmerlautstärke werden jedoch lustvoll über Bord geworfen, wenn Karneval gefeiert oder die Fußball-Weltmeisterschaft ausgetragen wird. „In dieser Zeit verwandeln sich die Deutschen in ein äußerst lautes und ausgelassenes Völkchen“, erzählt Henryk.
Das Olympiastadion in Berlin
Das Olympiastadion in Berlin | @ Martijn Mureau / CC BY-SA 4.0 / Wikipedia

Unordnung

Die letzte Station meiner Reise ist Australien, jedenfalls per Videochat. Ich unterhalte mich mit Rahel Cramer, die vor Kurzem an der Macquarie University Sydney in Linguistik promoviert hat. Zuvor hatte sie in einer ihrer Arbeiten einen Korpus von 25 Milliarden Wörtern untersucht, um zu ergründen, wie tief der Begriff Ordnung in der deutschen Sprache verwurzelt ist und was er eigentlich bedeutet.

„Ordnung verbindet sich mit Sicherheit, Ruhe, Recht und Disziplin, aber auch mit Pflicht“, zählt die Linguistin in ihrer Studie auf. Der Begriff taucht in vielen deutschen Sprichwörtern und Redewendungen auf. Über die Jahrhunderte hinweg wurde er immer wieder verwendet, um bestimmte Emotionen hervorzurufen.

„Aber es gibt auch Sprichwörter, die sich über die Ordnung lustig machen, zum Beispiel »Wer Ordnung hält ist nur zu faul zu suchen«. Und zu dem berühmten »Ordnung ist das halbe Leben« (einem Äquivalent zu dem ebenfalls berühmten »Ordnung muss sein«) fügen die Deutschen gern hinzu: »Und Unordnung die andere Hälfte«“, erzählt Ruth.

Und daran ist etwas Wahres. Ein Lied davon singen, können die Einwohner Berlins, wenn im Oktober mit neunjähriger Verspätung endlich der Berliner Großflughafen eröffnet wurde. Oder all jene, die gemeinsam mit Justyna in der Stadt Frankensteins und des Audi-Werks  auf ihren wieder mal verspäteten Bus warten. Oder jene, die wie Olivia aus Berlin ihr Auto gerne mal falsch parken, bewusst Unordnung halten und trotz Verbot die Wände anmalen. Oder auch alle anderen Deutschen, die mit dem Konzept der deutschen Ordnung überhaupt nichts am Hut haben. Schließlich kann man ein Land mit 83 Millionen Einwohnern nicht einfach in einem einzigen Begriff zusammenfassen. „Dass dein Nachbar und du aus demselben Land stammen und denselben kulturellen Hintergrund haben, bedeutet noch lange nicht, dass ihr auch auf die gleiche Weise lebt“, sagt Rahel.

Dorota Salus ist Übersetzerin und Absolventin der Polnischen Reportageschule. Sie schreibt für die Beilage „Wysokie Obcasy“ der „Gazeta Wyborcza“ und für die Zeitschrift „Polityka“. Außerdem übersetzt sie Artikel für das Magazin „National Geographic“.

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