Verschwörungstheorien, an die Deutsche glauben
„Du musst nur die Augen aufmachen.“

Etwa ein Drittel der Deutschen glaubt an geheime Mächte.
Etwa ein Drittel der Deutschen glaubt an geheime Mächte. | Foto: Pexels

Schuld an der Corona-Pandemie sind Bill Gates, die Rockefellers und die 5G-Technologie. Sie ist ein Geheimplan der Eliten zur Dezimierung der Weltbevölkerung. Die deutsche Regierung belügt ihre Bürger, weil sie Teil einer globalen Verschwörung ist. Und überhaupt ist Deutschland nach wie vor von den Alliierten besetzt.

„Die Regierungen der Welt benutzen das Coronavirus als ein trojanisches Pferd. Ihr Ziel ist es, die Weltbevölkerung radikal zu dezimieren“, sagt Rex ohne ein Augenzwinkern.

Der sympathische 50-Jährige mit Schirmmütze und kurzer Hose wirft mit Namen von Personen und Organisation um sich, die er für die Pandemie verantwortlich hält: die Weltgesundheitsorganisation, das Weltwirtschaftsforum, Bill Gates, die Lufthansa, die Rockefellers. Und vor allem natürlich die Bilderberg-Konferenzen, bei denen sich einmal im Jahr die Mächtigsten der Welt treffen. Eben dort wurde 2015 die Auslösung der Flüchtlingskrise und 2019 die Verbreitung des Coronavirus beschlossen.

Woher er das alles weiß?

„Na, woher wohl?“, wundert sich Rex. „Aus dem Internet natürlich!“

Kein Vertrauen in die Medien

Rex steht mit seiner Meinung nicht allein da. Ähnliche Ansichten vertreten die mehreren Tausend Menschen, die in der zweiten Septemberhälfte nach Düsseldorf gekommen sind, um gegen die Einschränkungen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie zu protestieren.

Das Bild, das sich mir auf den Düsseldorfer Rheinwiesen bietet, erinnert eher an ein Rockfestival als an ein Treffen von Verschwörungstheoretikern. Die Demonstranten lachen, singen und umarmen einander. Man trägt Dreadlocks und Schirmmützen, ein Sänger auf der Bühne intoniert „What a Wonderful World.“ Als schließlich der Partyhit „Macarena“ aus den Lautsprechern erklingt, setzt sich der bunte Zug in Bewegung. Die Organisatoren sprechen von einer Demonstration für Liebe und Frieden. An der Spitze des Zugs trägt jemand ein Porträt von Mahatma Gandhi. Lediglich die Transparente verraten, worum es in Wirklichkeit geht.

Die Parolen lauten „Stoppt den Corona-Wahnsinn“ und „Wir sind der Souverän.“ Sie richten sich gegen Autokratismus, gegen die globale Zerstörung der Wirtschaft, gegen Panikmache und gesellschaftliche Spaltung, gegen Polizeigewalt und blinden Gehorsam.

Wer kein eigenes Transparent mitgebracht hat, kann sich eines von den Organisatoren ausleihen.

Jenny sieht mit ihren zerzausten Haaren aus wie ein echtes Blumenkind. Sie nimmt an der Demonstration teil, um sich eine eigene Meinung zu bilden. Sie will sich dabei nicht auf die Mainstream-Medien verlassen. „Ich kenne nicht eine einzige Person, die an COVID-19 erkrankt ist. Merkwürdig, oder?“, fragt sie mich.

Nach Ansicht der Demonstrierenden benutzen die Regierungen der Welt das Coronavirus als ein trojanisches Pferd.
Nach Ansicht der Demonstrierenden benutzen die Regierungen der Welt das Coronavirus als ein trojanisches Pferd. | Foto: Pexels

Jenny ist extra aus Frankfurt angereist. Bisher hat sie sich nicht an den Protesten beteiligt. Früher arbeitete sie als Stewardess, war jedoch aufgrund von Schwierigkeiten am Arbeitsplatz gezwungen, frühzeitig in Rente zu gehen. Sie fragt mich, von welcher Zeitung wir seien und wie die Telefonnummer des Redakteurs laute. „Nimm das bitte nicht persönlich“, erklärt sie. „Es geht nicht um euch, ich habe einfach kein Vertrauen in die Medien.“

Michael, ein 30-jähriger Automechaniker schwenkt eine Flagge mit der Aufschrift „Querdenken 711.“ Dies ist der Name der Organisation, die hier gegen die Corona-Einschränkungen protestiert. Sie hat bereits mehrere Demonstrationen in ganz Deutschland organisiert, die größte davon in Berlin.

Michaels Sohn, der fünfjährige Maxim, wedelt fröhlich mit einem Pappmaché-Virus. „Ich glaube nicht an die Wirksamkeit von Schutzmasken. Wann immer es geht, nehme ich sie ab. Oder ich trage sie lediglich unter dem Kinn“, erzählt mir Michael. Er ist hierhergekommen, um zu zeigen, dass er eine eigene Meinung hat. „Und wenn mich die Leute deswegen als verrückt abstempeln, ist das ihr Problem. Die Medien und die Politiker sagen uns nicht die Wahrheit. Sieh dir nur einmal an, welchen Unsinn sie über Donald Trump verbreiten“, fügt er hinzu.

Als im Frühling der Lockdown ausgerufen wurde, begab sich Michael ins Internet, um nach der Wahrheit zu suchen. Er stieß auf zahlreiche Websites, auf denen erklärt wurde, dass das Coronavirus nicht gefährlicher sei als eine normale Grippe. Schließlich trat er auf der Messenger-Plattform Telegram einer Gruppe Gleichgesinnter bei. Woher er weiß, dass dort die Wahrheit geäußert wird?

„Man braucht nur ein wenig gesunden Menschenverstand. Man muss nur einen Moment nachdenken, und schon fügt sich alles zusammen,“ erklärt Michael.

Eine Bedrohung für das System

Michael nimmt auch an der Demonstration teil, um sich als Teil einer Gemeinschaft zu fühlen. Und tatsächlich scheint es, als gehe es den Demonstrierenden vor allem um menschlichen Kontakt. Die Aufforderungen der Polizei an die Demonstranten, doch bitte Abstand zueinander zu halten, werden mit einem ironischen Lächeln quittiert. Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass das Demonstrationsrecht wichtiger ist als der Kampf gegen das Virus. Und das Düsseldorfer Ordnungsdezernat hat sogar auf eine Maskenpflicht als Auflage für die Demonstration verzichtet.

Rex filmt die gesamte Demonstration mit seinem Smartphone und skandiert dabei „Freiheit! Stoppt die Corona-Diktatur!“ „Wir kämpfen gegen die Einschränkung der Bürgerrechte. Die Schutzmasken sind nur dazu da, die Menschen mundtot zu machen. Die Corona-Impfung birgt große Risiken. Du hast keine Ahnung, was der Impfstoff genau enthält. Die Einzigen, die an der Pandemie verdienen, sind die Pharmakonzerne und die Eliten“, erklärt er mir.

Vor der Pandemie glaubte er auch nicht an eine globale Verschwörung. Doch der Lockdown hat ihm die Augen geöffnet. „Warum haben sie uns so plötzlich eingesperrt? Wer hat etwas davon?“, fragte er sich. Und im Internet fand er die Antwort? Welche? „Schaut einfach selbst nach. Man muss nur ein wenig nachdenken und die Fakten zusammenfügen.“

Rex hatte genügend Zeit, um sämtliche Spuren zu verfolgen. Bis vor Kurzem arbeitete er in einer Autofabrik, sah sich jedoch gezwungen, zu kündigen, als sein Chef begann, ihn systematisch zu mobben. Seitdem ist er arbeitslos. Die Zwangsisolation löste bei ihm Angstattacken und Depressionen aus. Doch inzwischen scheint es ihm wesentlich besser zu gehen. „Die Regierung hat bereits Angst vor uns. Wir stellen eine Bedrohung für das System dar“, sagt er.
Viele Menschen vertrauen Informationen aus dem Internet.
Viele Menschen vertrauen Informationen aus dem Internet. | Foto: Pexels

Die Freidenker haben die Wahrheit erkannt

Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung berichtete kürzlich, dass etwa ein Drittel der Deutschen an geheime Mächte glaubt. Bei einer repräsentativen Umfrage waren sich 11 Prozent der Befragten sicher, dass die Aussage „Es gibt geheime Mächte, die die Welt steuern“ richtig ist, 19 Prozent hielten die Aussage für wahrscheinlich richtig. Fast 17 Prozent der Befragten halten das Coronavirus für einen Vorwand der Politik, um die Freiheitsrechte dauerhaft einzuschränken. Wir sprechen also von insgesamt mehreren Millionen Menschen.

Verschwörungstheorien haben in Deutschland derzeit Hochkonjunktur. Am deutlichsten wurde dies Ende August in Berlin, als 38 000 Menschen gegen die Corona-Maßnahmen demonstrierten. Unter den Demonstranten befanden sich Demokratieschützer, Künstler, Althippies, Rechtsradikale, Impfgegner und Anhänger diverser Verschwörungstheorien. Zum Beispiel jener, dass die europäischen Eliten eine Islamisierung Europas anstreben. „Diese Idee stammt aus Frankreich und findet auch in Deutschland immer mehr Anhänger“, sagt die Netzaktivistin und ehemalige politische Geschäftsführerin der Piratenpartei Deutschland Katharina Nocuń. Sie ist Mitautorin des kürzlich erschienenen Buchs „Fake Facts: Wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen.“

Zu den beliebtesten Verschwörungstheorien gehört nach wie vor die einer jüdischen Weltverschwörung. Das Leugnen des Holocausts ist in Deutschland verboten. Antisemitische Ansichten dürfen nicht unmittelbar geäußert werden, also suchen sich die Extremisten Ersatzfiguren, wie George Soros oder die Rothschilds. Und natürlich Angela Merkel.

Verschwörungstheoretiker werden von den Mainstream-Medien nicht zu Diskussionen eingeladen. Das stört sie jedoch kaum, denn sie haben sich längst eine alternative Medienlandschaft geschaffen. Sie haben ihre eigenen Internetsender, YouTube-Kanäle und Zeitschriften, unter anderem das Magazin „Compact“, das man an fast jedem Kiosk und jeder Tankstelle kaufen kann. Sie haben ihre eigenen Konferenzen und ihre eigenen Prominenten. Zum Beispiel Attila Hildmann, einen bekannten Vegankoch und TV-Star, der seit einiger Zeit diverse Verschwörungstheorien verbreitet. Er behauptet unter anderem, Corona sei eine von den jüdischen Eliten, Angela Merkel und Bill Gates gemachte Pandemie und das Virus werde mithilfe der 5G-Technologie und aus Flugzeugen versprühter Chemikalien verbreitet.

In Deutschland haben sich die „Freidenker“ ein enges Netzwerk geschaffen. Vielleicht gelang es ihnen deshalb, die größten Anti-Corona-Demonstrationen in Europa zu organisieren.

Verschwörungstheorien entstehen aus einem Gefühl des Kontrollverlusts. „Studien zeigen, dass Menschen, die keine Kontrolle über ihr eigenes Leben haben, die Tendenz entwickeln, dort Muster zu erkennen, wo es eigentlich keine gibt“, sagt Katharina Nocuń.

Der Verlust des Arbeitsplatzes, eine Scheidung, finanzielle Schwierigkeiten, aber auch große politische Veränderungen oder eben Pandemien können die Menschen dazu bringen, nach alternativen Erklärungsmustern zu suchen. Dazu kommt das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Elite, die die „Wahrheit“ erkannt hat. Das Gefühl, etwas Besonderes zu sein. Auf diese Weise stärken diese Menschen ihr Selbstwertgefühl.

Deutschland existiert nicht

Die Demonstranten in Düsseldorf skandieren „Frieden! Freiheit! Stoppt die Corona-Diktatur!“ Es wird getrötet und gepfiffen.

Der 48-jährige Markus ist aus Aachen gekommen. Bis vor Kurzem hat er als Messebauer in ganz Europa gearbeitet, er war auch schon oft in Polen. Es war eine schwere körperliche Arbeit, manchmal bis zu 30 Stunden am Stück. Er verdiente gutes Geld, jedenfalls bis vor Kurzem. Der Lockdown machte ihn arbeitslos.

Die Pandemie fügt sich ausgezeichnet in die Vorstellung von einer globalen Verschwörung, einer geheimen Elite, die bereits seit Jahrzehnten die Welt regiert. Markus spürte bereits in der Schule, dass etwas nicht stimmte. Die vielen Verzerrungen in der offiziellen Geschichtsschreibung irritierten ihn. Als ich ihn nach einem Beispiel frage, überlegt er lange und antwortet schließlich: „Na, da gibt es viele.“
Die Pandemie fügt sich ausgezeichnet in die Vorstellung von einer globalen Verschwörung.
Die Pandemie fügt sich ausgezeichnet in die Vorstellung von einer globalen Verschwörung. | Foto: Pixabay
„Nehmen wir nur einmal diese Vitaminprodukte. Warum verschreiben uns die Ärzte irgendwelche dubiosen Tabletten, anstatt uns zu ermutigen, mehr Obst zu essen? Niemand weiß, was diese Tabletten alles enthalten. Unser Gesundheitswesen macht niemanden gesund. Es geht dabei nur um die Pharmakonzerne, die sich auf Kosten der Gesellschaft bereichern.“

Wann er die Wahrheit erkannt hat? Vor 10 Jahren, als er zufällig auf eine Seite im Internet stieß. Da wurde ihm klar, dass das Deutsche Reich nach wie vor existiert, jedoch noch immer von den Alliierten besetzt ist. Der Beweis: Sogar das Bundesverfassungsgericht stellte 1973 fest, dass das Deutsche Reich fortbesteht und dass die Bundesrepublik nicht der Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches, sondern in staatsrechtlicher Hinsicht mit diesem identisch ist. Das ist eine Tatsache. Daraus ergibt sich laut Markus, dass die Bundesrepublik Deutschland kein legitimer und souveräner Staat ist, sondern lediglich eine von den alliierten Siegermächten kontrollierte Firma. Das wirkliche Deutsche Reich ist nach wie vor besetzt. An dieser Stelle echauffiert sich der bis dahin eher ruhige Markus plötzlich. Leidenschaftlich verkündet er: „Wir sind kein freies Land! Wir werden belogen! Die Deutschen sind von Natur aus ein gefügiges Volk. Aber das ändert sich gerade. Allmählich wacht Deutschland auf.“

Markus' Ansichten mögen zwar originell klingen, doch sie sind es nicht. Sie werden von etwa 30 000 Menschen in Deutschland geteilt. Von wie vielen genau, weiß man nicht, denn die Reichsbürger bilden keine einheitliche Gruppe. „Die Reichsbürger sind ein besonderes deutsches Phänomen. Es sind Rechtsextreme, die die Existenz der Bundesrepublik Deutschland nicht anerkennen“, sagt Katharina Nocuń.

Die Reichsbürger lehnen auch die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland ab. Viele von ihnen zahlen keine Steuern und halten sich nicht an Gesetze, auch nicht an die Straßenverkehrsordnung. Sie haben keine Personalausweise und keine Führerscheine und rufen in ihren Gärten eigene Fantasiestaaten aus. „Sie ernennen sich selbst zu Königen, bilden eigene Regierungen und drucken ihre eigenen Personalausweise und Reisepässe“, erzählt Nocuń.

Das mag zwar lustig erschienen, ist es jedoch nicht. 2016 eröffnete der Jäger Wolfgang P. aus Georgensgmünd bei Nürnberg das Feuer, als Polizisten in sein Haus eindrangen, um seine Waffen zu beschlagnahmen. Vier Polizeibeamte wurden verletzt, einer von ihnen tödlich. Wolfgang P. war überzeugter Reichsbürger.

Die Ideologie der Reichsbürgerbewegung ist ein extremes Beispiel rechtsextremer Verschwörungstheorien. Ihre Anhänger haben unterschiedliche Hintergründe. Was sie miteinander verbindet, ist ihre Ablehnung der Bundesregierung, die ihrer Ansicht nach lediglich eine Marionettenregierung ist.

„Antisemitismus und Verschwörungserzählungen waren schon immer ein wesentlicher Bestandteil rechtsextremer Narrative in Deutschland. Die Vorstellung, dass Juden heimlich die Welt regierten, ist einer der wirkmächtigsten antisemitischen Verschwörungsmythen. Die Erzählungen der Reichsbürger laufen darauf hinaus, dass Deutschland kein souveräner Staat sei und von „dunklen Mächten von außen“ kontrolliert würde. Antisemitismus ist ihnen daher immer inhärent“, sagt Felix Müller von der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus (MBR) Berlin. „Ihre Anhänger haben ein großes Gewaltpotenzial.“
Katharina Nocuń sagt: „Wenn du über Extremisten schreibst, bekommst du am Ende immer irgendwelche Morddrohungen. »Wir bringen dich um, du Jüdin!« oder Ähnliches. Daran habe ich mich längst gewöhnt. Wenn ich jeden solchen Vorfall melden und vor Gericht bringen würde, hätte ich für nichts anderes mehr Zeit.“

Auch die Reichsbürger und ihre Geistesgenossen waren auf den Berliner Demonstrationen zu sehen. Sie trugen Flaggen des Deutschen Reichs und des Königreichs Preußen, um offen zu zeigen, dass sie die Bundesrepublik Deutschland nicht anerkennen. Einige von ihnen warfen mit Steinen und Flaschen auf Polizisten und versuchten, die Treppen des Reichstags zu erstürmen. Die Polizei verhaftete über 200 Demonstranten.

Auf der Demonstration in Düsseldorf sind keine Reichsflaggen zu sehen. Doch die Antifaschisten haben sich trotzdem entlang der geplanten Strecke postiert. Die Polizei versucht, die beiden Gruppen auseinanderzuhalten. Die in Schwarz gekleideten Gegendemonstranten halten ein Transparent mit der Aufschrift „Gegen Nazismus und Rassenhass“ empor und rufen „Nazis raus!“ Die Anti-Covid-Demonstranten reagieren darauf mit Singen und Klatschen, sie rufen „Frieden“ und ebenfalls „Nazis raus!“

Rex steigt die Galle hoch. „Sie tun so, als seien wir Neonazis. Was haben wir denn mit rechten Szene gemein? Hast du hier irgendwelche Nazi-Symbole gesehen? Oder irgendeine Form von Gewalt?“

Nein. Ich muss zugeben, das habe ich nicht.

Der Preis der Wahrheit

Als die Demonstranten über eine Brücke marschieren, überkommen Markus düstere Gedanken über den Preis, den man manchmal für die Wahrheit zu zahlen hat. Viele seiner Angehörigen und Freunde haben sich von ihm abgewendet. Sie bezeichnen ihn als verrückt oder noch schlimmer. Anfangs litt er darunter. Inzwischen weiß er, dass es keinen Sinn hat, mit Menschen zu diskutieren, die die Wahrheit nicht sehen wollen. Aber wenn er merkt, dass jemand zögert, dass er aufgeschlossen ist, dann schreitet Markus zur Tat und versucht, ihn auf seine Seite zu ziehen. Er hat es bereits geschafft, seine Mutter von seinen Ansichten zu überzeugen. Das war ein großer Erfolg. Und auch eine Erleichterung. Zuvor war er lange Zeit ganz allein gewesen.

„Du kannst dir gar nicht vorstellen, was das für eine Einsamkeit ist, wenn niemand dich versteht“, sagt er.

Max hingegen hat Glück. Er ist mit seiner Freundin zu der Demonstration gekommen und hat viele Freunde, die ähnlich denken wie er. Er hat jedoch bereits von Paaren gehört, die sich während der Corona-Krise getrennt haben, weil einer der Partner die Wahrheit nicht sehen wollte.

„Die Corona-Krise hat das Aufkommen von Verschwörungstheorien begünstigt. Besorgte Familien wenden sich an uns, weil sie Hilfe im Umgang mit ihren Angehörigen benötigen“, sagt Iris Brennberger von der SektenInfo Berlin. Ihre Organisation berät Menschen, deren Angehörige unter den Einfluss von Sekten, esoterischen Bewegungen, extremen politischen Gruppierungen und zuletzt auch immer häufiger von Verschwörungstheorien geraten sind. Die Hilfesuchenden beschreiben eindrücklich, wie sehr sich der Charakter von Menschen verändert, die meinen, plötzlich die Wahrheit erkannt zu haben. Die meisten von ihnen verspüren ein überwältigendes Bedürfnis, ihre neu gewonnen Einsichten anderen Menschen mitzuteilen. Das führt zu vielen Konflikten und nicht selten zur Auflösung von Beziehungen. Familienmitglieder, die die Ansichten der Verschwörungstheoretiker nicht teilen, werden plötzlich als Feinde angesehen. Oder noch schlimmer: als Befürworter der Weltverschwörung.

„Solche Menschen nehmen sämtliche Gegenargumente als unlogisch und unsinnig wahr, sie verdrehen historische Tatsachen, um ihre eigene Weltsicht zu bestärken. Kritik von Angehörigen ist nicht erlaubt, konstruktive Diskussionen werden im Keim erstickt“, erklärt Brennberger.

In extremen Fällen verbieten Eltern ihren Kindern die Teilnahme am Schulunterricht, weil sie Angst haben, sie könnten dort indoktriniert werden.
Familienmitglieder beschreiben, wie sehr sich der Charakter von Menschen verändert, die meinen, plötzlich die Wahrheit erkannt zu haben.
Familienmitglieder beschreiben, wie sehr sich der Charakter von Menschen verändert, die meinen, plötzlich die Wahrheit erkannt zu haben. | Foto: Pexels
Was kann man tun, wenn der eigene Vater oder die eigene Schwester plötzlich beginnt, zum Beispiel an eine jüdische Weltverschwörung zu glauben? „Man muss sofort reagieren. Wenn jemand gerade erst beginnt, sich zu radikalisieren, kann man möglicherweise noch auf ihn einwirken“, sagt Katharina Nocuń, die Autorin des Buchs „Fake Facts.“ „Schlimmer ist es, wenn jemand seine Verschwörungstheorien bereits über längere Zeit kultiviert hat. Wenn du einen solchen Menschen mit einer wissenschaftlichen Studie oder einem Zeitungsartikel konfrontierst, wird er dir lediglich antworten: Das ist ein Teil der Verschwörung. Auf dieser Stufe kannst du nicht mehr mit Tatsachen argumentieren, sondern nur noch Fragen stellen wie: Warum hältst du diese Information für wahr? Warum hältst du diesen Menschen für einen Experten? Du musst irgendwie versuchen, die Betroffenen zum Nachdenken zu bringen. Das ist ein sehr langer und schwieriger Prozess.“

Haben die anderen vielleicht doch recht?

Der Demonstrationszug ist wieder auf den Rheinwiesen angekommen. Die Organisatoren bitten eine ältere Lehrerin auf die Bühne, die stolz verkündet, dass sie im Unterricht keine Schutzmaske trägt und dies auch ihren Schülern nicht gestattet. Die Menge applaudiert. Eine Weile später betritt eine Ärztin die Bühne, die erklärt, dass während des Lockdowns nicht einmal der Taschentücherverbrauch gestiegen sei. Fazit: Das Corona-Virus ist völlig ungefährlich. Wieder brandet Applaus auf.

Hubertine und Edith ruhen sich auf einer Decke aus. Die beiden über 50-jährigen Frauen sind gemeinsam mit ihren Freundinnen aus Bonn angereist. Edith präsentiert stolz ihr T-Shirt, auf dem die Weltkugel und zwei sich reichende Hände abgebildet sind. Es ist das Logo ihrer Gruppe. Hubertine und Edith haben sich beim Meditieren im Park kennengelernt. „Wir haben überhaupt keine Probleme, weitere Mitglieder zu finden. Wir müssen uns nur nach lächelnden Menschen umsehen, die keine Schutzmaske tragen“, sagt Edith.

Die beiden betreiben eine Website, auf der sie die Menschen über die Corona-Krise aufklären. Hubertine hat bis vor einigen Jahren als Pflegerin gearbeitet, konnte ihren Beruf jedoch aufgrund gesundheitlicher Probleme nicht mehr ausüben. Ihre Argumente gegen das Coronavirus bringt sie mit maschinengewehrartiger Geschwindigkeit vor: COVID-19 ist nichts anderes als die Schweinegrippe. Warum gab es damals keine solche Panikmache? Es gibt Beweise, dass das Coronavirus bereits 2013 nachgewiesen wurde. Die Corona-Tests sind Unsinn, und die Bundesregierung belügt das Volk. Das ist offensichtlich, man muss nur logisch denken.

Edith, die in einem Ärztehaus arbeitet, fügt hinzu: „Du musst lediglich auf eine ausreichende Vitaminzufuhr achten, dich körperlich bewegen und dich gesund ernähren, dann kann dir kein Virus etwas anhaben.“ Leider teilen ihr Sohn und ihre Tochter Ediths Ansichten nicht. Sie bezeichnen sie als verrückt und haben den Kontakt zu ihr abgebrochen. Edith leidet darunter, aber was soll sie tun? Jeder hat das Recht, sein Leben so zu leben, wie er es für richtig hält.

Ob Hubertine und Edith manchmal in Betracht ziehen, dass sie sich irren könnten und dass alle anderen vielleicht doch recht haben? „Manchmal denke ich schon darüber nach“, gesteht Hubertine. Einen Moment lang schweigt sie, dann fügt sie schließlich hinzu: „Aber ich halte es für sehr unwahrscheinlich.“

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