Games
Independent hat viele Gesichter

Game Desinger Lab main visual
© Goethe-Institut Taipei

Yang Jing (aka Allison) wurde in Ürümqi in der nordwestlichen chinesischen Provinz Xinjiang geboren und lebt gegenwärtig in Hongkong. Sie arbeitet an der Schnittstelle von Gaming, Kunst, Wissenschaft und Medien. Unter anderem produziert und designt sie Computerspiele und organisiert Ausstellungen im Bereich Games. Zudem ist sie journalistisch und auf verschiedenen Feldern des digitalen Storytellings tätig. Aktuell kuratiert Yang Jing für das Goethe- Institut das Projekt »Female Protagonists: International Women Gamer Makers Week« in Taipeh.

Patrick Wildermann: Yang Jing, wie hat Ihre Beschäftigung mit Games begonnen?
Yang Jing: Wie bei den meisten damit, dass ich selbst zu spielen anfing, als ich jung war. Allerdings ermutigt die Kultur, in der ich aufgewachsen bin, nicht gerade dazu, die Zeit so zu verbringen. Als Schülerin sollst du für die Schule lernen und dich möglichst durch nichts ablenken lassen. Insofern war das Gaming für mich lange mit Schuldgefühlen verbunden. Im Englischen spricht man von »guilty pleasure« – das trifft es. In späteren Jahren hatte ich eine Weile gar nichts mit Computerspielen zu tun, sondern war in Hongkong als Nachrichtenjournalistin mit Schwerpunkt Europa für das digitale Medienunternehmen Initium Media tätig. Während eines Aufenthalts in Heidelberg im Rahmen meiner Promotion schlug mir dann aber ein Kollege vor – ein begeisterter Spieler von Online-Brettspielen –, ich könne doch aus wissenschaftlich-kultureller Perspektive über Games schreiben.

Worauf haben Sie sich dabei fokussiert?
Anfangs habe ich vor allem dystopische Spiele analysiert, von denen einige der besten in Europa produziert werden. Beispielsweise »Orwell: Keeping an Eye on You« vom deutschen Entwickler Osmotic Studios. Es spielt in einem fiktiven Land namens »The Nation«, wo das Ziel ist, alle und jeden auszuspionieren. Die Entwickler haben damit, ob bewusst oder unbewusst, eine Stimmung im Deutschland der Jahre 2015, 2016 gespiegelt: Das wachsende Misstrauen im Zuge der Flüchtlingskrise, die zunehmenden ideologischen Konfrontationen. Ein anderes Beispiel ist »This War of Mine«, produziert von 11 bit studios aus Warschau. Es basiert auf Oral History und Interviews, die zum Bosnienkrieg in den 1990er Jahren geführt wurden – kein klassisches Kriegsspiel, vielmehr steuert man vier bis fünf NPCs (non-player characters, Anm. d. Red.), die Zivilisten sind und für deren Überleben man mit allen Mitteln sorgen muss. Ein Spiel mit einer ausgeprägten ethischen Dimension.

Sie selbst haben unter anderem das Spiel »Forgetter« entwickelt, in dem es darum geht, die Gehirne toter Künstler von düsteren Erinnerungen und Traumata zu reinigen und sie an reiche Eltern zu verkaufen, die sich kreativen, aber unbelasteten Nachwuchs wünschen. Wie ist diese Idee entstanden?
Das Projekt ist von dem französischen Sammler Sylvain Lévy finanziert und Teil seiner »dslcollection« mit digitaler chinesischer Gegenwartskunst. Lévy hatte ursprünglich ein Virtual-Reality-Museum im Sinn, aber mein Co-Entwickler Alan Kwan und ich haben ihn überzeugt, stattdessen in ein Spiel zu investieren. Wir wollten einen Plot erzählen, der sich kritisch mit der Kunstwelt des 21. Jahrhunderts auseinandersetzt – vollgepumpt mit Geld, geprägt vom Wunsch nach Ruhm und von Exotismus in Bezug auf nicht westliche Länder. Und zugleich haben uns bestimmte gesellschaftliche Entwicklungen in Bezug auf die Virtualisierung von Körpern beschäftigt. In Hongkong, wo sich alles ums Geldverdienen dreht, gibt es einen Laden, der Injektionen verkauft, die die Nahrungsaufnahme ersetzen sollen. Das spart Zeit, und das Versprechen ist: keine Kalorien, pure Energie. Dieser Spirit wird auch vor dem Umgang mit unserem Bewusstsein und unseren Erinnerungen nicht Halt machen – Elon Musk und andere investieren ja bereits in Projekte, die Gehirn-Computer-Schnittstellen auf ein völlig neues Level heben und perspektivisch das Bewusstsein in eine Cloud einspeisen wollen. Auch in Shanghai existieren solche Forschungen. Finanziert werden sie von einem Investor, der eine Computerspielfirma besitzt.

Wie verorten Sie sich selbst als Games-Produzentin – gehören Sie zu einer chinesischen Independent-Szene?
Der Begriff »independent« wird heute sehr locker verwendet, aber eigentlich ist er geschichtlich sehr klar in den USA der frühen 2000er Jahre verortet. Gemeint ist eine Entwicklerszene von kaukasischen Amerikanern, überwiegend aus der Mittelschicht, die mit Konsolenspielen aufgewachsen sind und schon früh Zugang zu Programmierkenntnissen hatten. Ich komme aus einer anderen Kultur, was schon damit beginnt, dass ich keine Konsole hatte und von völlig anderen Spielen geprägt bin. »Indie« ist also nicht gleich »Indie«. In China gab es bis vor Kurzem eine prosperierende Gaming-Industrie, überwiegend mit Firmen mittlerer Größe, die kommerziell sehr erfolgreiche Spiele produziert haben, deren Entwickler aber auch sämtlich als Unabhängige gestartet sind.

Ist die Industrie inzwischen nicht mehr erfolgreich?
Viele hatten gehofft, dass die Wirtschaft an das Niveau vor der Pandemie anknüpfen würde, aber das ist nicht der Fall, weswegen weniger Menschen ihr Geld in Spiele investieren und die Verkäufe einbrechen. Dazu kommen staatliche Beschränkungen, man benötigt eine Lizenz, um Spiele entwickeln und verkaufen zu dürfen. Wie auch bei der Film- und Buchindustrie weiß niemand genau, was erlaubt ist, was nicht. Natürlich gibt es offensichtliche Regeln: Sei nicht politisch, sei nicht sexuell explizit. Aber viele Beschränkungen bleiben unausgesprochen. Wenn Entwickler ein Game bei der Zensur einreichen, kann es sechs bis zwölf Monate dauern, bis sie eine Rückmeldung bekommen und dann im Zweifelsfall Änderungsauflagen umsetzen müssen. Allein diese lange Zeit kann für eine Firma das Aus bedeuten. Inzwischen sind viele dazu übergegangen, nur noch für den ausländischen Markt zu produzieren, Spiele mit möglichst wenig Sprache, ohne erkennbare kulturelle Bezüge. Außerdem verbergen sie ihre Identität als chinesisches Unternehmen, damit sie etwa in den USA erfolgreich sein können.

Die chinesische Regierung hat unlängst die Videospielzeit für Kinder auf drei Stunden pro Woche beschränkt. Was halten Sie von solchen Maßnahmen?
Dabei ging es ja um Online-Gaming, auf alles andere hat die Regierung keinen Einfluss. Aber interessant ist, wie diese Maßnahmen durchgesetzt werden – nämlich mit KI zur Gesichtserkennung, die überall im Land zum Einsatz kommt. Das Programm greift auf die Kamera des Computers zu und fordert dich auf, dich scannen zu lassen. Dahinter steht aber ein größeres Problem. Es wird viel über internetsüchtige Kinder oder Teenager geredet, es gibt sogar Camps, in denen sie mit Elektroschocks behandelt werden. Aber das Gaming ist nur ein Symptom. Oft handelt es sich um junge Menschen aus ländlichen Gegenden, deren Eltern zum Arbeiten in die Stadt gezogen sind und sie vernachlässigen. Die Kids flüchten sich in die Onlinewelt, was sie wiederum zur perfekten Zielgruppe für die Gaming-Industrie macht.

Wie unterscheiden sich die Gaming-Szenen in China und Taiwan?
In Hongkong, wo ich lebe, existiert leider keine große Gaming-Szene, es geht meistens um Krypto-Gaming – Leute erfinden neue Währungen, die für In-Game-Käufe genutzt werden können. In Taiwan sind mittlerweile Spielesehr populär, die keinen Bezug zu China haben. In den 1990er Jahren war das noch anders, damals haben wir mit Begeisterung taiwanische RPGs (Role Player Games, Anm. d. Red.) gespielt, deren Entwickler in den 1960er oder 1970er Jahren geboren waren und noch an die gemeinsame chinesische Kultur glaubten. Diese History- und Fantasy-Games kamen auch auf dem Festland extrem gut an. Mittlerweile hat sich der politische Wind gedreht, jetzt geht es um genuin taiwanische Geschichten, oder es werden Spiele im Anime-Stil produziert, die auf den japanischen Markt zielen. China lässt taiwanesische Spiele nicht mehr zu.

Mit dem Leipziger Studio ROTxBLAU entwickeln Sie gerade ein Spiel, das sich mit ähnlichen Erfahrungen in der ehemaligen DDR nach der Wende und in Nordchina zur selben Zeit befassen soll. Worin bestehen die Parallelen?
In der Erfahrung einer kompletten wirtschaftlichen Entwurzelung und dem damit verbundenen Identitätsverlust. Auch in China gab es in den 1990ern eine Abkehr von der staatlichen Planwirtschaft, an deren Stelle dann vielfach nichts trat. Die gesamte Familie meiner Mutter war bei einem staatlichen Unternehmen beschäftigt, das Süßwaren für die gesamte Provinz Xinjiang produziert hat, die viermal so groß ist wie Deutschland. Diese Firma war ein eigener Mikrokosmos mit Schulen, Krankenhaus und Wohnungen für die Arbeiterinnen und Arbeiter. Aber 1998 wurde sie geschlossen und das Gelände an einen Immobilienentwickler verkauft. Gerade viele der Männer hatten danach Schwierigkeiten, neue Arbeit zu finden, einige sind Sicherheitsleute geworden. Eine ehemalige Kollegin meiner Mutter hat mit 40 Jahren als Sexarbeiterin angefangen. Der chinesische Dokumentarfilmer Wang Bing, dessen Werk 2017 auf der documenta gezeigt wurde, hat dieses Phänomen der Brüche in Biografien ebenfalls in einem seiner Filme aufgegriffen.

Gegenwärtig kuratieren Sie für das Goethe-Institut in Taipeh das Gaming-Projekt »Female Protagonists«. Weshalb sind Frauen in diesem Feld noch immer unterrepräsentiert?
Das hat auch mit kulturellen Prägungen zu tun. In den taiwanischen Fantasy-Games, die ich schon erwähnt habe, musste man beispielsweise immer einen männlichen Charakter spielen. Dieser Held konnte sich für eine Frau an seiner Seite entscheiden, eine andere blieb dafür mit gebrochenem Herzen zurück, war aber bereit, sich für das größere Wohl zu opfern. Dazu kommt noch eine andere Ebene: Wenn du in China für mehr Inklusion in der Gaming-Szene eintrittst, wird dir schnell vorgeworfen, einen amerikanischen Diskurs der politischen Korrektheit zu bedienen. Ich habe einen Artikel mit dem Titel »Too many bimbos, too less women in games« zu diesem Komplex geschrieben und eine kontroverse Debatte erwartet – tatsächlich schlug mir aus allen Teilen der Welt gleichermaßen Hass entgegen.

Das Thema Gaming hat viele negative Facetten – gibt es auch einen pädagogischen Mehrwert, der außer Acht gelassen wird?
Da kommt es natürlich sehr auf das jeweilige Spiel an. Was mir dazu einfällt: Ich habe als Kind sehr oft ein japanisches Fantasy-Game gespielt, bei dem man Charaktere verschiedener Nationalitäten aus dem 16. oder 17. Jahrhundert wählen und auf Weltreise über die Ozeane gehen konnte. Ich wollte beim Spielen einfach Spaß haben. Aber der Nebeneffekt war, dass sich meine Noten in Geografie sprunghaft verbessert haben.

Vielen Dank.

Top