Diskurs & Analyse
Theater für Taiwan

Keng Yi-Wei
© Willie Schumann

Der Nachbar meiner Kindheit war der Besitzer eines Kinos, das sich in der Nähe einer belebten Straße befand. Ich ging oft in das Kino, stand auf dem Balkon des Vorführraums im zweiten Stock und beobachtete das Leben und die Paraden auf der Straße. Von der Terrasse schaute ich auf die Menschenmassen, die Umzugswagen und die kostümierten Menschen. Gleichzeitig konnte ich durch das Projektionsloch im Raum hinter mir schauen und versuchen, einen Blick auf den Film zu erhaschen, der gerade im Kino gezeigt wurde. Diesen Wechsel zwischen Realität und Fantasie zu erleben, hat mich als Kind zutiefst beeindruckt. Heute, in unserem modernen Leben, verbringen wir unsere Zeit damit in Laptops und Handybildschirme zu starren. Wir sind überwältigt von einem endlosen Strom von Bildern und Informationen. Wir leben in der Illusion, dass diese Geräte uns die Möglichkeit geben, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten. In Wahrheit fehlt diesen Geräten ein Element der existenziellen Realität: der Einsatz des Körpers.

Wir leben im Zeitalter der Globalisierung und der Nicht-Orte. Wir suchen alles im Internet und sehnen uns gleichzeitig nach realen Abenteuern. Aus dieser Sehnsucht heraus fragen wir uns: Sind diese Orte unsere „neue Welt“? In dieser Zeit lässt uns die Kunst die Aufregung des Abenteuers spüren. Das Ziel des Theaters besteht daher darin, ein Umfeld zu schaffen, in dem der Künstler Risiken eingehen kann, um dem Publikum etwas zu präsentieren, das es noch nie zuvor gesehen hat.

Das Theater hat seinen dominanten Platz in der Medienlandschaft aus dem 18. und 19 Jahrhundert verloren, darüber müssen wir uns im Klaren sein. Aber auch die Religion hat nach der Aufklärung an Einfluss verloren. Trotzdem stehen die Kirchen nach wie vor in zahlreichen Stadtzentren und die Menschen finden dort Trost und Gemeinschaft, obwohl sich das Verhältnis der Menschen zur Kirche stark verändert hat. Vielleicht hat sich unser Verhältnis zum Theater auf eine ähnliche Art und Weise verändert – aber wir brauchen immer noch Gott, wir brauchen immer noch Theater. Theater ist ein Käfig, der einen Vogel sucht.

Die Intimität und Unmittelbarkeit, die meine Kindheit zwischen Fantasie und Realität gekennzeichnet hat, diese Erfahrung von Stimulation und Chaos, lässt mich spüren, dass dies die wesentlichen Elemente des Theaters sind. Ich denke, dass das Theater dem Publikum helfen kann, alle Aspekte der heutigen Gesellschaft zu erforschen, einschließlich Politik, Kultur, Familie, Wissenschaft, Liebe, Freundschaft, Alltagsleben, Philosophie und Technologie. Und nicht nur Aspekte der heutigen Gesellschaft: als Reaktion auf die Widerstandsbewegung gegen die Demokratie zu Beginn der 1980er Jahre entwickelten sich kleine Theaterbewegungen und wurden zu einem experimentierfreudigen, kulturellen Instrument; sie brachten die Luft der Freiheit. Die Ästhetik dieser kleinen Theater war radikal. Das experimentelle Theater war ein Medium für junge Menschen, um dem politischen Druck zu trotzen und sich auszudrücken. Sie nutzten Performance und Theater, um das moderne Theater zu revolutionieren. Die Improvisation wurde als neue Art des Theaterspielens eingeführt. In den 1990er Jahren wurde die Postmoderne populär, und die Produktionen beschäftigten sich nicht mehr nur mit politischen und sozialen Fragen, sondern auch mit der Geschlechterfrage.

Vor diesem Hintergrund liegt mir besonders die Förderung des dramaturgischen und dokumentarischen Theaters in Taiwan am Herzen. Von 2012 bis 2017 war ich künstlerischer Leiter des Taipei Arts Festivals. Während meiner Amtszeit wurden internationale Koproduktionen zu einem sehr wichtigen Merkmal des Festivals,  jedes Jahr haben wir mindestens eine internationale Koproduktion gezeigt.

Ich glaube, dass das Dokumentartheater eine besondere Art ist, die sozialen und politischen Realitäten zu erforschen. Deshalb beauftragte ich beispielsweise Our Theatre mit der Produktion von „Delusion of Home“ für das Taipei Arts Festival 2015. Um unseren Theatermacher*innen das Dokumentartheater näher zu bringen, lud ich Christine Umpfenbach zu einem Dokumentartheater-Workshop anlässlich des Taipei Arts Festival 2016 ein. „Common Ground“ vom Gorki Theater wurde im selben Jahr zum TAF eingeladen. Auch Rimini Protokoll wurde 2017 zum ersten Mal nach Taipeh eingeladen, um „Remote City“ zu zeigen.

Auch nach meinem Ausscheiden aus dem Taipei Arts Festival setzte ich mich weiterhin für die Förderung des Dokumentartheaters ein. „Better Life?“ von Polymer DMT wurde beim Taoyuan Iron Rose Festival 2020 uraufgeführt. „Better Life?“ ist ein interaktiver Dokumentarfilm, der das Leben vietnamesischer Wanderarbeiter*innen thematisiert. Die letzte Version von „Better Life?“ ist „Home Away From Home“. Zum Kunstfest Weimar wird „Home Away From Home“ im Rahmenprogramm der Goethe-Medaille Ende August 2023 gezeigt. Ich denke, dass das Dokumentartheater wichtig für unsere Gesellschaft ist, denn es gibt viele unerzählte Geschichten, die man nur durch das Dokumentartheater erfahren kann. Als ich künstlerischer Leiter wurde, habe ich auch versucht, die Funktion des Dramaturgen zu stärken, die zu dieser Zeit in Taiwan noch sehr unüblich war. Mit Hilfe von Dr. Clemens Treter, von 2014 bis 2016 Leiter des Goethe-Instituts Taipeh, lud ich Christoph Lepschy zu einem Dramaturgie-Workshop beim Taipei Arts Festival 2015 ein. Außerdem wurde Gregor Grunge vom Theater Bremen eingeladen, im darauffolgenden Jahr einen Tanzdramaturgie-Workshop zu geben. Als ich das Taipei Arts Festival 2017 verließ, wurde ich von Wen-pin Chien, dem künstlerischen Leiter des Weiwuying Center ort he Arts, eingeladen, 2018 die Dramaturgie zu übernehmen. Es war das erste Mal, dass diese Funktion für eine Theaterinstitution in Taiwan besetzt wurde.

Taiwan ist ein kleines Land, in dem es wegen der chinesischen Regierung schwierig ist, international wahrgenommen zu werden. Manchmal kennen Menschen den Unterschied zwischen Taiwan und Thailand nicht. Ich hoffe immer, dass die Künstler*innen länger in Taiwan bleiben können, um es besser kennenzulernen. Die Idee ist, dass sie Zeit haben, sich mit den taiwanischen Künstler*innen, dem Publikum und der Stadt zu beschäftigen und nicht nur mit einem dichten Tourneeplan kommen und nach einer Woche wieder gehen. Durch die internationale Co-Creation-Initiative habe ich ausländischen Künstler*innen die Möglichkeit gegeben, Taipei aus erster Hand zu erleben. Der beste Art, Begegnungen mit den Künstler*innen und dem Publikum vor Ort zu schaffen, sind längerfristige Aufenthalte. Ich bin immer der Meinung, dass ein Theaterfestival den Geist der Stadt widerspiegeln muss. Der Geist von Taipei ist jung, kreativ und freundlich. Internationale Kooperationen schaffen Möglichkeiten für kulturellen Austausch und gegenseitiges Lernen. Sie erlauben uns auch, neue Methoden des Theatermachens zu erforschen. Dafür sind wir immer auf der Suche nach neuen Modellen der Zusammenarbeit.

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