Deutschland als Gastland bei der Taipei International Book Exhibition
„German Stories“ sind auch Taiwans Geschichten

Deutscher Stand bei 2019 TiBE
Foto: Terry Lin © Goethe-Institut Taipei

Als Gastland der Taipei International Book Exhibition 2019 hatte die deutsche Delegation ihren Auftritt unter ein Motto gestellt, das über dem 400 Quadratmeter großen Stand gleich am Eingang zur Messehalle prangte: „German Stories.“ 

Von Klaus Bardenhagen

Das bezog sich zunächst einmal konkret auf die Geschichten, die taiwanische Besucher hier aus den Werken deutscher Autoren erfahren konnten. Viele hundert Romane, Kurzgeschichtensammlungen, Bilder- und  Sachbücher lagen am Stand aus – im Original und übersetzt ins Chinesische für Taiwans Markt. Unterschiedlichste Stoffe, die einen Eindruck vermittelten von der Vielfalt an Themen, die Deutschlands Gesellschaft beschäftigen.

Doch es ging nicht nur um die interessierte Betrachtung eines fernen Landes, sondern auch darum, Verknüpfungen aufzuzeigen und neue Verbindungen herzustellen. Obwohl fast die ganze Welt zwischen Deutschland und Taiwan liegt, trotz sprachlicher und kultureller Unterschiede, stehen diese beiden Gesellschaften sich näher, haben die Menschen sich mehr zu sagen, als es oberflächlich scheint. „Deutsche Geschichten sind auch Taiwans Geschichten“, sagte zur Eröffnung Jens Rösler, als Leiter des Goethe-Instituts Taipei Mitgestalter des deutschen Auftritts. „Es gibt viele Themen, die uns sowohl in Deutschland als auch in Taiwan beschäftigen.“

Gemeinsame Entwicklungen

Als Deutscher, der in Taipeh lebt, kann ich das bestätigen. Welche Prioritäten setzt eine Gesellschaft, mit welchen Herausforderungen muss sie umgehen? Wenn ich mir hier als freier Journalist Gedanken über mögliche Berichte mache, stoße ich immer wieder auf Parallelen zu Debatten, die auch Deutschland bewegen. Alternde Gesellschaft, Energiewende, gerechte Verteilung von Wohlstand, Wandel der Arbeitswelt oder das Verhältnis zwischen den Generationen – das sind nur einige Beispiele.

Taiwan und Deutschland, so erkläre ich es mir zumindest, sind entwickelte Länder, die viel erreicht haben. Ihr jeweiliges Wirtschaftswunder katapultierte sie, zu unterschiedlichen Zeiten, weit nach oben. Doch die Zeiten vermeintlich ewigen Wachstums sind vorbei – weil andere aufgeholt haben, und weil unser Planet es sowieso nicht verkraftet. Alte Schlüsselindustrien sind nicht mehr zukunftssicher, Lebensplanungen nicht mehr verlässlich. Der drastische Rückgang der Geburtenzahlen in Taiwan seit der Jahrtausendwende ist ein guter Indikator für die gefühlte Unsicherheit. Nun geht es darum, das Erreichte zu sichern und sich zugleich neu aufzustellen für eine Zukunft, die viele Veränderungen bringen wird.

Wie Digitalisierung das Leben verändert

Ein zentrales Thema mit viel Verunsicherungspotenzial, das zeigte sich auch bei dem Messeauftritt, ist der Einfluss von Technologie auf Arbeitswelt und Lebenswirklichkeit. „Zu Themen wie Digitalisierung und künstliche Intelligenz, die uns weltweit beschäftigen, bieten deutsche Autoren besonders interessante reflexive und analytische Ansätze“, sagte Jens Rösler. 13 Schriftstellerinnen und Schriftsteller waren auf Einladung der Frankfurter Buchmesse in Taipeh dabei, hatten ihre Werke mitgebracht und stellten sich auf Veranstaltungen den Fragen des Publikums. Sie vertraten dabei sowohl die Belletristik als auch den Sachbuchbereich.

Gespräch: Von Menschmaschinen und Maschinenmenschen
Foto: Terry Lin © Goethe-Institut Taipei
Marc-Uwe Kling etwa stellte seinen Roman „QualityLand“ vor, der bald auch in Taiwan erscheinen soll. In der satirischen Dystopie treibt er aktuelle Entwicklungen auf die Spitze und entwirft eine Welt, in der von Arbeit über Freizeit bis zum Liebesleben alles durch Algorithmen marktbeherrschender Anbieter „optimiert“ wird. „Ich wollte ein lustiges Buch über Entwicklungen der Gegenwart schreiben“, sagte Kling vor Publikum auf dem deutschen Stand. Durch das Weiterdenken in die Zukunft habe er deutlich machen wollen, „was alles schief gehen kann.“

Der Newsfeed und die Demokratie

Der in Berlin lebende taiwanische Journalist Lin Yu-li verwies auf Facebook als bevorzugte Nachrichtenquelle vieler seiner Landsleute. Im Newsfeed sehe man vor allem Meldungen, die einem wahrscheinlich gefallen, statt solchen, denen man widerspricht. „Wenn wir nicht mehr an die gleichen Fakten glauben, haben wir keine Basis fürs Gespräch“, sagte Kling und erzählte vom gescheiterten Gesprächsversuch mit einem Anhänger einer rechtspopulistischen Partei. „Es ist eine große Gefahr für die Demokratie, wenn man nicht mehr miteinander reden kann.“

Gespräch: Von Menschmaschinen und Maschinenmenschen
Foto: Terry Lin © Goethe-Institut Taipei
Mit Blick auf die 2018 in Kraft getretene EU-Datenschutzgrundverordnung bemerkte Lin, in Europa habe das Bewusstsein für die Sensibilität persönlicher Daten offenbar einen höheren Stellenwert als in Taiwan. „Die meisten können sich nicht vorstellen, was man mit Daten alles herausfinden kann“, antwortete Kling. Die Kombination von Datensätzen vieler Nutzer erlaubten nicht nur Rückschlüsse. Unternehmen nutzten sie auch, um künftiges Verhalten voraussagen. (Ein eher simples Beispiel ist Netflix: Auf Grundlage der bisher angesehen Filme und Serien schlägt es Nutzern vor, welche Programme ihnen wohl gefallen würden.)

Das Problem dabei, so Kling: Solche Prognosen träfen für eine Gesamtheit ähnlicher Leute zwar zu, aber nicht unbedingt auf das konkrete Individuum. Diese Erfahrung mache der Protagonist in seinem Buch: „Das System hält ihn für jemanden, der er nicht ist – aber er kommt da nicht mehr heraus.“ Von Produkten bis zu Partnern werde alles über das Netz vermittelt. „Die Daten machen das ganze Leben zu einer Falle, aus der es kein Entkommen gibt.“

Künstliche Intelligenz ist längst Realität

Gespräch: Von Menschmaschinen und Maschinenmenschen
Foto: Terry Lin © Goethe-Institut Taipei
Zu Bedachtsamkeit beim Umgang mit neuen Technologien raten auch Miriam Meckel und Holger Volland in ihren Büchern „Mein Kopf gehört mir: Eine Reise durch die schöne neue Welt des Brainhacking“ und „Die kreative Macht der Maschinen“. In ihrem Gespräch am deutschen Stand ging es um Einflüsse auf unser Denken und Fühlen. Dass künstliche Intelligenz etwa durch Spracherkennungssysteme innerhalb weniger Jahre im Alltag selbstverständlich geworden ist, darin waren sich beide einig und sahen das auch durch Beobachtungen in Taipeh bestätigt. Das Smartphone sei längst ein „ausgelagertes Gehirn“ geworden.

Gespräch: Von Menschmaschinen und Maschinenmenschen
Foto: Terry Lin © Goethe-Institut Taipei
Die Entwicklung wird weitergehen. „Wirtschaftswoche“-Herausgeberin Meckel berichtete von einem Gerät, das von außen das Funktionieren des Gehirns beeinflusse und in den USA bis vor kurzem ohne Regulierung für 300 Dollar erhältlich gewesen sei. Nach einem Selbstversuch habe sie sich zunächst aufgeputscht gefühlt, dann aber 36 Stunden lang weder essen noch schlafen wollen. „Es gibt in unserer Welt keinen Mangel an Informationen“, sagte Volland, der auch Vizepräsident der Frankfurter Buchmesse ist. „Aber Bücher, besonders Sachbücher, werden wichtiger, um die Welt zu verstehen – und einander.“

Der schwierige Umgang mit der eigenen Vergangenheit

Ein weiterer großer Themenkomplex, in dem Deutschland und Taiwan sich viel zu sagen haben, drehte sich auf der Messe um Demokratie, Freiheiten und den Umgang mit der eigenen Geschichte. „Man kann schon sagen, dass einige deutsche Stoffe in Taiwan in den letzten Jahren wichtiger geworden sind“, sagte mir James Chao, der Direktor der Taipei International Book Exhibition. „Zum Beispiel Übergangsjustiz oder Menschenrechte. Welchen Weg eine Gesellschaft nimmt und wie sie sich entwickelt.“ In amerikanischen oder japanischen Büchern, die in Taiwan noch zahlreicher übersetzt werden als deutsche, kämen diese Themen dagegen kaum vor.

Was in Taiwan als Übergangsjustiz (Transitional Justice, 轉型正義) bezeichnet wird, deckt sich großenteils mit dem schwer zu übersetzenden deutschen Begriff der Vergangenheitsbewältigung. Es geht darum, dunkle Seiten der eigenen Geschichte aufzuarbeiten und historische Wunden zu heilen.

Auch Taiwan hat Erfahrungen mit Einparteienherrschaft und staatlicher Willkür. Bis Ende der achtziger Jahre wurde die Insel fast 40 Jahre lang per Kriegsrecht und Ausnahmezustand regiert. Taiwans Gesellschaft überwand dieses System aus eigener Kraft und etablierte in den neunziger Jahren eine Demokratie, die nach mehreren friedlichen Machtwechseln heute als gefestigt und nicht nur für Asien vorbildlich gelten kann.

Dieser friedliche Demokratisierungsprozess bedeutete aber auch, dass es keinen klaren Bruch mit dem alten System gab. Viele Opfer wurden entschädigt, aber so gut wie keine Täter benannt oder gar zur Verantwortung gezogen. Mir kommt es so vor, dass Taiwan seine Diktatur zwar überwunden, aber nicht wirklich aufgearbeitet hat.

Interesse an deutschen Erfahrungen

Die „Brüche und Übergangsphasen“ in Taiwans jüngerer Geschichte, zu denen Jens Rösler auch das Ende der japanischen Kolonialherrschaft 1945 zählt, stehen im Fokus, seit Taiwans Regierung 2016 die Übergangsjustiz zu einem ihrer zentralen Vorhaben erklärte. Innenpolitisch wird das kontrovers diskutiert. Neu eingesetzte Kommissionen aus Juristen und Historikern, Aufspüren von verschobenem Parteivermögen, Öffnung politischer Archive – bei vielen Maßnahmen orientiert Taiwan sich nun ganz bewusst am deutschen Umgang mit dem Erbe der SED-Diktatur. Die deutschen Erfahrungen dabei gelten als vorbildlich. Auch die Gedenkkultur und der offene Umgang mit den Verbrechen des Dritten Reichs, der sich vergleichbar etwa in Japan nicht findet, werden hier mit Respekt betrachtet.

„Der Vorteil daran, in Taiwan deutsche Beispiele zu diskutieren, ist, dass es weiter weg ist“, erzählte mir Jens Rösler. „Damit lassen sich solche Themen ruhiger verhandeln, analytischer und unemotionaler, und man sieht die Dinge klarer.“ Eine gewisse Distanz bringe also größeres Verstehen.

Was Fritz Bauer Taiwan zu sagen hat

Gespräch: Vergangenheit neu verstehen
Foto: Terry Lin © Goethe-Institut Taipei
Genau dieses Zusammenwirken von Distanz und Relevanz wurde bei dem Auftritt von Autor Ronen Steinke spürbar. Der Jurist und Journalist hatte über Kriegsverbrechertribunale promoviert und 2013 eine viel gelobte Biografie über Fritz Bauer veröffentlicht, den seinerzeit angefeindeten Staatsanwalt der Auschwitz-Prozesse. Auf der Messe diskutierte Steinke mit Lin Yu-li unter dem Titel „Vergangeneit neu verstehen“. Wie eine Demokratie aus einer Diktatur heraus entstehen und stabil bleiben könne, sei eine der wichtigsten Fragen, so Steinke. „Die Justiz spielt dabei eine zentrale Rolle.“ Fritz Bauer seien Rachegelüste vorgeworfen worden, als er Verbrechen verfolgte, die in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft lange unter den Teppich gekehrt worden waren. „Es geht aber um Recht, nicht um Rache.“

Die taiwanischen Zuhörer verfolgten Steinkes Ausführungen über deutsche Erfahrungen besonders aufmerksam. Ihre Reaktionen – mal Verwunderung, mal zustimmendes Nicken – zeigten, dass sie die Aussagen mit der Situation in Taiwan abglichen. Auch ihre Fragen hatten hiesige Debatten zum Hintergrund: Wie hatten damals die unterschiedlichen Parteien in Deutschland auf die Aufarbeitung reagiert, wie wurde neue Spaltung vermieden, und was lernen die Schüler über diese Zeit der Geschichte?
Gespräch: Vergangenheit neu verstehen
Foto: Terry Lin © Goethe-Institut Taipei

Messeauftritt als politisches Statement

Dass heikle Themen ganz selbstverständlich öffentlich diskutiert werden, zeigte den deutschen Besuchern auch deutlich, wie gefestigt demokratische Prinzipien in Taiwan ein gutes Vierteljahrhundert nach dem Ende der Einparteienherrschaft sind. Quer durch alle politischen Lager wäre in Taiwan so gut wie niemand bereit, Rede- und Meinungsfreiheit aufzugeben.

Dass eine Buchmesse sich dem freien Wort und der freien Publikation widme, sei in dieser Region nicht selbstverständlich, so Deutschlands inoffizieller Botschafter in Taipeh, Thomas Prinz, bei der Eröffnung. Man müsse nicht weit blicken, um Länder zu sehen, in denen die Freiheit zensiert werde, sagte er – ohne dabei, ganz Diplomat, China beim Namen zu nennen.
Generaldirektor Dr. Thomas Prinz beim Deutschen Institut Taipei
Foto: Terry Lin © Goethe-Institut Taipei
Die deutsche Präsenz auf der Messe sei auch ein politisches Statement. „Wir leben in einer Zeit, wo unterschiedliche Wertvorstellungen aufeinander treffen und autoritäre Regime teilweise sehr erfolgreich versuchen, ihr Modell zu exportieren. In dieser Auseinandersetzung müssen wir Demokraten zusammenstehen und uns gegenseitig unterstützen.“ Genau das habe Deutschland mit seinem Auftritt bei der Taipei International Book Exhibition getan.

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