Literatur
Corinna Sigmund

Corinna Sigmund, geboren 1982 in Dachau, arbeitet als freie Autorin und lebt in Berlin. Sie studierte Komparatistik und Philosophie in München und promovierte in Bonn und Paris. Sie schreibt Kurzprosa, Theaterstücke, ist involviert in Theaterstückentwicklungen und arbeitet zurzeit an ihrem ersten Roman. Sie gewann Literaturpreise und Stipendien und war mit ihrem Romanprojekt eingeladen zur Prosawerkstatt des Literarischen Colloquiums Berlin.
 
Coming Home ist der Titel des Hörstücks, mit dessen Entwicklung Corinna Sigmund während ihres Aufenthaltes in Peking begann. Interviews mit jungen chinesischen und europäischen Auswanderern bilden die Grundlage für ein Arrangement von Stimmen, das sich um die konfliktreiche Situation der Rückkehr an den Heimatort dreht. Das schwer zu fassende Gefühl von Entfremdung, die Konfrontation mit der Familie sowie die Frage nach einem neuen Heimatentwurf kehren in dieser Komposition der Perspektiven wieder. Die Erzählungen der Heimkehrer widersprechen und ergänzen sich, formen Echos und verleihen einander Tiefe. Das Stück geht mit seinem dokumentarischen Material, Interviews und Field Recordings, spielerisch um: Es liefert keine Antworten, sondern lässt dem Zuhörer die Freiheit, Bezüge zwischen den auftauchenden Themen und Narrationen selbst herzustellen.

Das Material, das sich in Peking durch Begegnungen und die Erfahrung der chinesischen Kultur geformt hat, wird Corinna Sigmund in Zusammenarbeit mit dem Klangkünstler Martin Lutz (www.martinlutz.eu) weiterentwickeln und formal fertigstellen.
 


Zum Schreiben braucht man bekanntlich das Allerwenigste: einen Tisch, einen Stuhl, ein Schreibgerät. Dieses karge Schreibszenario ist für mich seit Peking um ein Utensil erweitert: Seit der Residenz benötige ich zusätzlich unbedingt das doppelwandige, verschraubbare Teeglas, das ich in einem Teeladen in der Nähe der Metrostation Beixinqiao erstanden habe. Es steht jetzt immer griffbereit neben meinem Rechner, manchmal mit Tee, meistens nur mit heißem Wasser gefüllt. Hunderte von Pekingern haben mich überzeugt: Ohne ein handwärmendes Teegefäß und die kontinuierliche Zufuhr von heißem Wasser geht gar nichts. Mein Arbeitsalltag ist also um ein Viertel chinesischer geworden. Andere erstaunliche und erfreuliche Gewohnheiten dieses lebenslustigen Völkchens lassen sich leider weniger leicht exportieren: Das Tragen von Pyjamas auf der Strasse, das reichhaltige Frühstücksangebot von Huntun-Suppe bis Baozi und Fettgebäck, die Sing- und Tanzfreude an allen Orten und zu allen Gegebenheiten und – sehr, sehr wichtig – Wechat. Denn so wie in Peking nichts ohne Teegefäß geht, so geht hier alles mit dieser auf den ersten Blick unscheinbaren Smartphone-App: Kontakte knüpfen, Fotos versenden, Taxis rufen, Essen bestellen, bezahlen. Bist du bei Wechat, bist du in China. Und auch nicht vorher, wie ich in den ersten Tagen meiner Ankunft erfahren musste.

Als Grünschnabel war ich nach Peking geflogen, mit einem billigen Telefon, dessen komplette Dienste über Google liefen. Zwar hatte ich schon von der Great Firewall gehört. Dem virtuellen Pendant zur Großen Mauer, das Chinas WorldWideWeb von unliebsamen ausländischen Einflüssen abschirmt. Trotzdem war ich überrascht, als auch nach dem Einsetzen einer chinesischen SIM-Card mit Internetguthaben nichts lief. Es dauerte einige Tage und etliche Basteleinheiten des versierten Assistenten Nicolas vom Institute for Provocation, bis ich wieder online war und der überlebenswichtige Wechat-Account eingerichtet werden konnte. Man macht sich in so überschaubaren Städten wie Berlin und München keine Vorstellung, wie unverzichtbar diese App ist, um in China sozialfähig zu sein. E-Mail und SMS ist im Reich der Mitte längst passé. Alle Bekanntschaften werden erst dann vollwertig, wenn man die We-Chat-ID des Gegenübers gescannt und zum Datenpool hinzugefügt hat. Dahin sind damit auch die Zeiten des drögen Emoticon-Austausches per Whatsapp oder Facebook. Wechatten bedeutet nämlich über eine ganze Palette an ausgefeilten Stickern zu verfügen und supersüße und bizarre Kreaturen anstelle von lahmen Wortgebilden durch die Chats zu jagen.

Lahm und unzureichend schien mir Sprache ohnehin, nachdem in den wenigsten Momenten damit etwas anzufangen war. Sei es vor der kryptischen Speisekarte im Restaurant, an der Bushaltestelle oder im Obstladen: Hände, Füsse, Finger und Bildchen sind in den meisten Situationen brauchbarer als Englisch auf B2-Niveau. Und wundersam wie weit man mit zwei Worten kommt: Nǐ hǎo (Hallo!)
und Xièxiè (Danke!) reichen um den Pekinger froh und hilfsbereit zu stimmen. Wenn in der dritten Woche dann noch Zài Ná (Das da!) dazukommt, hat man ein auskömmliches Kommunikationsmanual zusammen.
Auch die intuitive Karte, die sich nach und nach von meinem Heimat-Hutong entwarf, kommt mit reduziertem Vokabular aus. Um sich mit den anderen Residents, die ebenfalls im Courtyard meines Gastgebers, des Institute for Provocation, im Heizhima Hutong lebten, zu verabreden, reichten Ortsangaben wie: At the Muslim Place, at the other Muslim Place, at the Nice-Waitress-Restaurant, at the Porridge-Place, at the Noodlesoup-Place, at the Tiny-Soup-Place, at the Yunnan-Restaurant, at the Brewery. Man kann natürlich auch einfach eine Standort-Pin per Wechat schicken. Was man jedenfalls an dieser Karte sieht: China geht durch den Magen. Essen ist Hauptsache, in geschäftlichen wie in privaten Belangen. Und im Vergleich zur Vielfalt, die die chinesische Küche zu bieten hat, kann man den deutschen Kochtopf schlichterdings für abserviert erklären.

Meine innere, sehr für den alltäglichen Gebrauch bestimmte Mini-Peking-Map mit dem Fokus auf den Dongcheng-Destrict wurde durch Ausfahrten mit meinem selbst erstandenen Fahrrad, einem Beijing Bicycle der alten Schule regelmäßig erweitert. Und sogar zum Goethe-Institut, das im Chaoyang District noch hinter der 4th Ringroad liegt, kommt man meistens pedaltretend schneller als wenn man in ein Taxi springt, das dann durch den Stau kriecht. Allerdings sollte man verkehrsmäßig hartgesotten sein. Denn alles was hier auf den Straßen kreucht und fleucht kennt keine Regel noch Pardon. Mopeds, die durch eine Nische in den parkenden Autos auf den Highway schießen, Lastfahrzeuge, die sobald die Dunkelheit einbricht ihre Scheinwerfer ausschalten, rote Ampeln, deren vordringlicher Zweck zu sein scheint, dem Lichtdesign der Stadt noch etwas Rot und Grün hinzuzufügen. Zum Glück geht es gewöhnlich, unter anderem wegen der ständigen Staus, nicht besonders rasant zu. Ausweichen ist die Devise. Und: Atemmaske aufziehen, denn so eine tiefeninhalierte Ladung Smog spürt man tatsächlich in der Lunge. Stichwort: Peking-Husten...
Und wie es sich in Peking schreibt? Zuerst einmal gar nicht. Zumindest ich als Peking-Jungfrau musste erst einmal nur Schauen und Hören und möglichst viel Essen. Dann war es vor allem das Hören, das mich faszinierte und den entscheidenden Ausschlag für die Transformation meines Schreib-Projekts gab. Denn Peking war für mich als eine hier ganz aus der Sprache Geratene in erster Linie Klang: die Tonleitern und Modulationen des Chinesischen, das Spucken auf der Straße und Slurpen der handgezogenen Nudeln in den Nudelbars, fast geräuschlos: das Sausen der sich anschleichenden Elektromopeds, das Klinken der Fahrradketten in der gedämpften Abendatmosphäre der Hutong-Gassen, die Computerstimme des Mülltransporters im Rückwärtsgang, das gespenstische Rauschen im Airportexpress, die lärmige Soundkulisse der sich mischenden Live-Konzerte in den Bars um den Hou Hai herum. Mein geplantes Theaterstück, in dem es auch um das Fremdsein und Transitexistenzen geht, transformierte sich vor diesem Hintergrund schließlich in ein Hörstückprojekt.

Peking ist Klang. Die Stadt hat mich mit vielen ihrer Geräusche und Stimmen zurückgeschickt. Und schon warte ich, dass sie mich erneut zu sich ruft.