Literatur
Stephan Thome

Chinas andere Zeiten

Die Ankunft in Nanjing bleibt mir unvergesslich. Von der Flugzeugtür führt eine wackelige Treppe hinab aufs Rollfeld. Wie ein heißes feuchtes Handtuch schlägt mir die Luft entgegen, der Geruch von Kerosin mischt sich mit dem Lärm der noch rotierenden Triebwerke. Einige hundert Meter entfernt sieht das Flughafengebäude aus wie eine alte Fabrik, die in der Hitze flimmert. Dorthin schleppen die Passagiere ihr Handgepäck, quer übers Rollfeld, eine Horde Menschen auf der Suche nach Schatten.

Das war natürlich nicht heute, sondern im August 1995, bei meinem ersten Besuch in China. Jetzt ist November, zweiundzwanzig Jahre später, und der neue Flughafen empfängt mich mit derselben funktionalen Kühle wie überall in Europa oder Nordamerika. Glänzende Böden, Neonlicht und Werbung. Auf dem Zubringer in die Stadt herrscht Stau, aber nirgends sehe ich wie damals die Heerscharen ausgemergelter Arbeiter, die mit nacktem Oberkörper und einem Strohhut auf dem Kopf dabei waren, Straßen und Häuser zu bauen. Die Shanghai Lu in der Nähe des Campus, der auch heute mein Ziel ist, war eine einzige in Staub gehüllte Baustelle, nachts in weißes Flutlicht getaucht. Die Arbeiter schliefen in Zeltplanen neben aufgerissenen Gräben, es gab kaum schwere Maschinen, nur man-power, aber davon sehr viel.

Damals kam ich als Sprachstudent und blieb zwölf Monate, die zu den prägendsten meines Erwachsenenlebens werden sollten. Diesmal habe ich nur zwei Monate, um einen Roman abzuschließen, der teilweise in Nanjing spielt, allerdings noch einmal rund hundertfünfzig Jahre früher, in den letzten Jahren der Taiping Rebellion (1851-1864). Das Büro, das mir die Uni dankenswerter Weise zur Verfügung stellt, liegt neben meinem damaligen Wohnheim, und von einem Fenster im sechsten Stock aus kann ich den Flur sehen, in dem ich gewohnt habe. Zimmer 708. Zurzeit ist das Gebäude wegen Renovierung geschlossen, im Foyer liegen stapelweise ausrangierte Klimaanlagen, die zu besitzen wir uns damals nur wünschen konnten.

Wer China über einen langen Zeitraum immer wieder bereist, kann nicht anders, als den rasanten Wandel zu bestaunen, der für mich in Nanjing besser zu beobachten ist als anderswo, eben weil ich die Stadt ein wenig kenne. In seinem Buch Oracle Bones schreibt Peter Hessler, in Nanjing habe Chinas Geschichte meist nur kurz Halt gemacht, bevor sie an andere Orte weiterzog. Die Ming verlegten ihre Hauptstadt schnell in den Norden, die sogenannte Himmlische Hauptstadt der Taiping ging nach elf Jahren unter, Chiang Kaisheks Regierung musste schon nach zehn Jahren nach Chongqing fliehen, dann kam die japanische Armee für den kürzesten und schrecklichsten Halt in Nanjings Geschichte. Heute mag die Stadt weniger internationale Aufmerksamkeit auf sich ziehen als Peking oder Shanghai, aber die Umwälzungen sind hier ebenso tiefgreifend. Westlich des Yangzi ist ein völlig neues Banken- und Geschäftsviertel entstanden, draußen hinter dem Campus von Xianlin erstreckt sich der noch neuere Science Park, und natürlich schlägt sich der Wandel nicht nur im Stadtbild nieder. Wichtiger, aber ungleich schwerer zu erfassen ist das, was mit Menschen geschieht, die dauerhaft an einem Ort leben, dessen ständige Veränderung die einzige Konstante zu sein scheint. In einer Bar bei der Uni klagt der Besitzer, es sähen inzwischen alle chinesischen Städte mehr oder weniger gleich aus. Er stammt aus Shandong, hat die Kindheit in Peking verbracht und ist etwa zur selben Zeit nach Nanjing gekommen wie ich bei meinem ersten Besuch. Wir tauschen Erinnerungen aus, und auf einmal bekommt das Gespräch etwas vom Schwelgen in der guten alten Zeit. Mir begegnet das oft: Mal ist es, als berauschte sich China an der Wucht des eigenen Aufschwungs, dann wieder scheint eine Nostalgie durch, die hier wie anderswo die Suche nach Halt ist, den der unablässige Wandel nicht gewähren will.

Welche der beiden Seiten überwiegt, weiß ich nicht. Als ich mich in der Nähe des Campus in einem Fitness-Club anmelde, der kürzlich eröffnet hat, erzählt mir der Manager, im nächsten Jahr plane er die Eröffnung von mindestens zehn weiteren Filialen. Mit einem Freund fahre ich eine Stunde aus der Stadt hinaus und betrete das Besucherzentrum einer neuen Kleinstadt, die hier aus dem Boden gestampft wird. Die Managerin, Tochter des Bauherrn, führt uns herum. Zehntausend Menschen sollen in Kürze hier leben, in Häusern, die dem klassischen Si-he-yuan Stil nachempfunden sind, mit Innenhof und geschwungenen Dächern und einem Knopf für den medizinischen Notfall, denn das ist die Idee: Eine Stadt für die beruflich erfolgreiche Mittelschicht, die keine Zeit hat, ihre Eltern selbst zu betreuen. Eine Tabelle listet die Fahrzeiten zum Südbahnhof, dem Flughafen und der Innenstadt von Nanjing auf. Bei uns würde man irgendwo an der Peripherie ein Altenwohnheim bauen, hier entsteht eine völlig neue Stadt. Ein riesiger Klinikkomplex bildet das Zentrum, es gibt Kinos und Parks, Sportanlagen und einen Tempel, und beim Rundgang frage ich mich, ob es das ist, was der allgegenwärtige Slogan vom chinesischen Traum bedeutet: ein hochmodernes, funktionales und dem Design nach typisch chinesisches Umfeld, ein Si-he-yuan mit Fußbodenheizung, wo alles neu riecht, einen Hauch von Tradition vermittelt, vor allem aber sicher, geordnet und übersichtlich ist. Eine Stadt, bestehend aus drei Variationen desselben Haustyps, die sich nur nach Größe und Preis unterscheiden. Die potentiellen Käufer, die ich auf dem Rundgang beobachte, klopfen anerkennend auf Wände, loben das Mobiliar und freuen sich über Details wie die Karpfen in dem kleinen Teich im Hof, mir fällt plötzlich das Wort Chinoiserie ein. Im achtzehnten Jahrhundert stellten sich europäische Fürsten gerne einen exotisch anmutenden Pavillon in ihren Garten, der den Eindruck einer heilen fremden Welt vermitteln sollte. Kein Chinese, mit dem ich den Schlosspark von Sanssouci besucht habe, konnte sich beim Anblick des chinesischen Teehauses ein Lachen verkneifen, zu offensichtlich waren der fake und das Bedürfnis, das er befriedigen sollte. Jetzt frage ich mich, ob es Chinoiserie auch in China geben kann. Oder ist das eine in ihrer Überheblichkeit typisch westliche Frage?
 
Im Zuge meiner Romanrecherche habe ich in den letzten drei Jahren viele Tagebücher, Briefe und Memoiren aus einer Zeit gelesen, als koloniale Attitüden noch salonfähig waren und das westliche Überlegenheitsgefühl, das sich darin aussprach, ungebrochen. Bei der Lektüre spürte ich, wie sehr mir das zuwider ist, aber wenn ich in China bin, stoße ich manchmal auf Restbestände davon in meinem eigenen Kopf. Immer wieder ertappe ich mich dabei, mit einer gewissen rechthaberischen Penetranz - die mir eigentlich fern liegt - nach Dingen zu suchen, die ich kritisieren kann. Gefunden sind sie schnell. Man kann wirklich keine zwanzig Schritte gehen, ohne über die zwölf Kernwerte des Sozialismus zu stolpern, und selbst auf der Toilette leiste ich mit jedem kleinen Schritt näher ans Pissoir meinen großen Beitrag zur Zivilisation. Dass mir das so sehr auf den Geist geht, hat sicher mit Politik zu tun, aber vielleicht steckt noch mehr dahinter. Der Wandel findet schließlich nicht nur in China statt, sondern wirkt sich weltweit aus, und man muss keine Handelsstatistiken lesen, um das zu spüren. Von Chinesen meines Alters höre ich oft Erzählungen von der ersten Reise nach Europa, die verbunden war mit der demütigenden Einsicht, aus einem abgehängten Land zu kommen. Inzwischen hat sich dieses Gefühl verflüchtigt, bei manchen sogar ins Gegenteil verkehrt. Beim Abendessen sagt die Managerin der erwähnten properen Kleinstadt, außerhalb von Paris sei Frankreich ja doch ziemlich luo hou (rückständig), und ich erinnere mich, wie reich ich mich 1995 mit einem monatlichen Stipendium von elfhundert D-Mark gefühlt habe. Nie bin ich Bus gefahren, immer nur Taxi, und wenn ich auf einem Stadtspaziergang zur Toilette musste, habe ich das nächste Luxushotel angesteuert. Kein Türsteher hätte zu fragen gewagt, ob ich dort wohne - es war das genaue Gegenteil der Erfahrung, die Chinesen zur selben Zeit im Westen machten. Heute blicke ich auf die neuen MacBooks und iPhones meiner Studenten, die Luxuskarossen in den Straßen, und auf einem Kurztrip nach Shanghai erschrecke ich über die Preise in den Bars der ehemaligen französischen Konzession. Wahrscheinlich könnte ich immer noch jedes Hotel betreten, ohne nach der Zimmernummer gefragt zu werden, aber ich tue es nicht mehr. Die Zeiten sind vorbei.

Apropos Zeiten. Vor sechs Jahren, als ich zum ersten Mal in einem der neuen Schnellzüge saß, der von Nanjing nach Wuhan fuhr, und aus dem Fenster auf Reisfelder schaute, wo Büffel die Pflüge zogen, kam mir der Gedanke, dass Chinas Uhren zwar überall die Pekinger Zeit anzeigen, dass es in Wirklichkeit aber viele Zeitzonen gibt, die bloß räumlich nicht klar geschieden sind, und die nicht Stunden, sondern Jahrzehnte voneinander trennen. In China braucht eigentlich auch das Wort Gegenwart einen Plural, und deshalb ist, was sich dort tut, so schwer auf den Begriff zu bringen. Ich jedenfalls scheitere an dieser Aufgabe jedes Mal aufs Neue. Trotzdem danke ich dem Goethe-Institut und der Uni Nanjing für die Gelegenheit, mich der chinesischen Unübersichtlichkeit ein weiteres Mal auszusetzen und das zu genießen, was der Wandel zum Glück unangetastet gelassen hat: Die Gastfreundlichkeit der Menschen, der ich bei diesem Besuch ebenso begegnet bin wie bei allen vorigen, und derentwegen es nicht lange dauern wird, bis ich wiederkomme.

Stephan Thome, geboren 1972 in Biedenkopf / Hessen, studierte Philosophie, Religionswissenschaft und Sinologie an der Freien Universität Berlin. Seine Studien führten ihn nach Nanjing, Taipeh und Tokio. 2004 Promotion an der FU Berlin im Fach Philosophie mit einer Arbeit über interkulturelle Hermeneutik und konfuzianisches Denken. Von 2005 bis 2011 arbeitete er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an verschiedenen akademischen Forschungseinrichtungen in Taipeh (Taiwan National University, Academia Sinica, National Science Council) und veröffentlichte Aufsätze zur interkulturellen Philosophie und zum modernen Neu-Konfuzianismus. Sein Romandebüt „Grenzgang“ erschien 2009 im Suhrkamp Verlag, stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises und wurde mit dem aspekte-Literaturpreis ausgezeichnet. Seit 2011 arbeitet Stephan Thome als freier Schriftsteller. Sein zweiter Roman „Fliehkräfte“ erschien im Herbst 2012 im Suhrkamp Verlag und gelangte auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises. 2015 erschien sein Roman „Gegenspiel“. 2014 wurde Stephan Thome mit dem Kunstpreis Berlin (Literatur) der Akademie der Künste ausgezeichnet.