Zorn und Stille

Zorn und Stille © Hoffmann u. Campe Verl. Sandra Gugić: Zorn und Stille.
 Hamburg: Hoffmann u. Campe Verlag, 2020,
 240 Seiten.


Ein grundsätzlicher Gegensatz scheint das Rückgrat des Romans Zorn und Stille von Sandra Gugić (geb. 1976) zu bilden: einerseits der Wunsch nach Selbstbestimmung als zentrifugale Bewegung einer Ent-bindung; und andererseits die Verwicklung in den familiären, sozialen und historischen Rahmen und die Abhängigkeit von den Bindungen, die daraus entstehen. Anhand der Geschichte von Billy Bana – der Tochter einer jugoslawischen Migrantenfamilie in Wien, die mit siebzehn das Elternhaus verlässt, um in einem besetzten Haus zu leben, eine Beziehung mit einer Frau eingeht, Fotokünstlerin wird und seitdem ein nomadisches Leben führt – sowie der Lebensgeschichten von deren Eltern und Bruder, die Billys Geschichte umrahmen, legt Gugić einen multiperspektivischen, schrägen Familienroman vor, der sich thematisch auf der Grundlage ständiger, erlebter oder nur gedachter Abschiede und Wiederannäherungen entfaltet. Das Problem der Herkunft und der Identität – behandelt vor dem Hintergrund der Jugoslawienkriege, die ihren Schatten auf das Leben und das Bewusstsein von allen Familienmitgliedern werfen – steht im Zentrum des Buches, das das Verhältnis zwischen Freiheit und Eigenverantwortung, die Verflechtung zwischen Vergangenheit und Gegenwart wie auch zwischen Leben und Kunst untersucht. Billys Fotos, stille Zeugnisse der Orte, der Personen und der Dinge, die sie umgeben, scheinen zugleich das festzuhalten, was einem stets entgeht: die vielfältigen Aspekte der Realität, ihre unterschiedlichen Interpretationen, die aufeinanderliegenden Schichten, aus denen sie gebildet ist. Die schlichte aber emotional aufgeladene Sprache von Sandra Gugić in ihrem vorliegenden, zweiten Roman zoomt auf die Personen und Situationen, überträgt Spannungen und Vibrationen, und gleichzeitig schafft sie es, beharrlich und methodisch die Oberfläche zu durchbohren und in die tieferen Schichten einzudringen.

Marina Agathangelidou © Marina Agathangelidou Von Marina Agathangelidou
Marina Agathangelidou, geboren 1984 in Athen, lebt in Berlin. Sie studierte Theaterwissenschaft und literarisches Übersetzen in Athen und promovierte anschließend am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin. Seit 2006 ist sie als freie Übersetzerin tätig.

Hoffmann u. Campe Verlag