Kunst im Slum
Vom Slum zur Touristenattraktion

Fotozone im Gamcheon Culture Village, Busan
Fotozone im Gamcheon Culture Village, Busan | Foto: Jun Michael Park

Gamcheon war einst ein Slum an einem Hang in Südkoreas größter Hafenstadt Busan. Doch dank einer ungewöhnlichen Initiative von Bewohnern, Künstlern und Lokalregierung hat es sich inzwischen in eine pittoreske Ansammlung von Kunstateliers, Geschäften und Wohnhäusern verwandelt und ist zu einer regelrechten Touristenattraktion geworden.

In einem koreanischen Slum abseits des Stadtzentrums erwartet man normalerweise keine hochwertige italienische Küche oder Würstchen mit Kartoffelbrei. Umso stolzer ist der junge Betreiber des Restaurant-Cafés The Plate auf seinen Erfolg. „Anfangs wollte ich ein Hostel betreiben, das unter dem Motto des Koreakriegs gestanden hätte. Die Geschichte dieses Ortes und mein Touristikstudium hatten das nahe gelegt. Aber für jetzt muss das hier reichen.“ 
 
Seung-hwan Bang (35) wuchs in der Nähe des Gamcheon Culture Village auf. Das Viertel liegt an einem steilen Hang und überblickt Koreas südliche Hafenstadt Busan. In den vergangenen sieben Jahren hat sich das Dorf zu einem Touristenziel gewandelt, das Vorzeigecharakter hat.
 
Auf dem Höhepunkt des Koreakrieges (1950-53) war Busan das Ziel von zahlreichen Kriegsflüchtlingen gewesen, die die Siedlung anwachsen ließen. Lange Zeit bestand Gamcheon aus einem Wirrwarr baufälliger Häuser, in denen Arme und Alte lebten. 

Unerwarteter Erfolg

Heute zieht das Dorf mit seinen weniger als 9.000 Einwohnern jährlich 160.000 Besucher an. Es wird gern als Musterbeispiel für eine Stadterneuerung herangezogen. Eine Kooperative der Bewohnerinnen und Bewohner hat ein Sozialunternehmen gegründet, um die zahlreichen Souvenirläden, Cafés, Restaurants, das Hostel und den Parkplatz zu verwalten. Der Ort zieht junge Menschen mit unternehmerischem Geist wie Bang an, die hier ihr Glück versuchen wollen.
 
Selbst in ihren kühnsten Träumen hätten sich die Bewohner einen solchen Erfolg nicht vorstellen können. „Am Anfang gab es von einigen Bewohnern Widerstand. Sie fragten, warum man sich nicht einfach auf die Grundbedürfnisse konzentriere. Was sollte das ganze Gerede über Kunst?“, sagt Soon-seon Jeon, Vizepräsidentin des Kooperationsausschusses der Dorfbewohner.
 
Der Grundgedanke für Gamcheons Transformation war simpel. Viele hatten das Dorf wegen Armut und schlechten Lebensbedingungen verlassen, wodurch mehr und mehr Häuser leer standen. 2009 formulierten deshalb die Dorfbewohnerinnen, Künstler und Lokalbeamten gemeinsam das Ziel, Künstler einzuladen und ihnen die leeren Räumlichkeiten mietfrei zur Verfügung zu stellen. Sie sollten Kunstwerke erschaffen, die wiederum zur Verschönerung des Dorfes beitragen würden. Mit einem Startkapital von 100 Millionen Won (ca. 80.000 Euro), gestellt vom südkoreanischen Ministerium für Kultur, Sport und Tourismus, trug das Projekt sofort sichtbare Früchte. 2011 zog das Dorf bereits 30.000 Besucherinnen und Besucher an.

Die Geburtsstunde eines Sozialunternehmens

Nachdem die erste Künstlergruppe ein großes Wandbild und neun Skulpturen geschaffen hatte, folgten andere mit weiteren Kunstwerken. Die wachsende Beliebtheit des Ortes führte 2012 zur Gründung eines Sozialunternehmens mit einem Kapital von nur 24 Millionen Won (ca. 20.000 Euro). Das Unternehmen wuchs und dehnte seine Aktivitäten auf weitere Geschäftsbereiche aus, um den Bedürfnissen der Touristen gerecht zu werden. 120 zahlende Mitglieder sind an diesem Unternehmen beteiligt, das viel mit einer Genossenschaft gemeinsam hat. 20 von ihnen sitzen im Kooperationsausschuss, der das Projekt leitet. Die Mehrheit des Ausschusses machen aber die Dorfbewohner aus, wegen ihrer Expertise halten auch einige Lokalpolitiker und Künstlerinnen Sitze inne.
 
Gamcheon ist nun eine malerische Enklave, bunt und reich an Kunst in einer Weise, wie sie in koreanischen Städten nur selten anzutreffen ist. Dort dominieren sonst vor allem gleichförmige Apartmentblocks. Selbst in kleinen Dörfern steht die Ästhetik nur selten im Vordergrund des Interesses, und man stößt nicht selten an jeder Ecke auf Müll und Unrat.
 
Im Gegensatz dazu ist Gamcheon auffallend sauber. Drei junge malaysische Frauen brachen während unseres Rundganges in Begeisterungsstürme aus, trotz der eisigen Dezemberkälte.
 
“Ich mag den treppenförmigen Aufbau des Dorfes. Das erinnert stark an Europa. In Malaysia haben wir so etwas nicht“, sagte Rozzie Wang (29) begeistert.
 
  • Ein buntes Schild am Eingang des Gamcheon Culture Village. Foto: Jun Michael Park
    Ein buntes Schild am Eingang des Gamcheon Culture Village.
  • Blick auf das Gamcheon Culture Village. Foto: Jun Michael Park
    Blick auf das Gamcheon Culture Village.
  • Eine Anwohnerin blickt auf die gewundenen Gassen von Gamcheon. Foto: Jun Michael Park
    Eine Anwohnerin blickt auf die gewundenen Gassen von Gamcheon.
  • Eine alte Anwohnerin steigt die Treppe herunter. Die orange Farbe signalisiert einen Rundweg für Touristen. Foto: Jun Michael Park
    Eine alte Anwohnerin steigt die Treppe herunter. Die orange Farbe signalisiert einen Rundweg für Touristen.
  • Mitarbeiterinnen erklären Touristen die Dorfkarte. Foto: Jun Michael Park
    Mitarbeiterinnen erklären Touristen die Dorfkarte.
  • The Plate ist ein Restaurant im Gamcheon Culture Village. Foto: Jun Michael Park
    The Plate ist ein Restaurant im Gamcheon Culture Village.
  • Seung-hwan Bang, 35, ist der Besitzer des Restaurants The Plate im Gamcheon Culture Village. Foto: Jun Michael Park
    Seung-hwan Bang, 35, ist der Besitzer des Restaurants The Plate im Gamcheon Culture Village.
  • Touristen machen ein Selfie. Foto: Jun Michael Park
    Touristen machen ein Selfie.
  • Eine Touristin fotografiert Katzen auf einem blauen Dach. Foto: Jun Michael Park
    Eine Touristin fotografiert Katzen auf einem blauen Dach.
  • Liebesschlösser, die von Touristen zurückgelassen wurden. Foto: Jun Michael Park
    Liebesschlösser, die von Touristen zurückgelassen wurden.

Schattenseiten des Erfolgs

Überraschenderweise beschweren sich über die Transformation des Dorfes vor allem langjährige Bewohner. „Ohne die vielen Menschen wären wir arm, doch das Problem ist, dass die meisten Alten das Dorf verlassen haben und die Händler alle von außen kommen. Viele Einheimische vermieten oder verkaufen ihre Häuser“, klagte die Besitzerin eines kleinen Ladens an der Hauptstraße, die namentlich nicht genannt werden wollte.
 
No-mi Kang (62), eine andere Ladenbesitzerin, äußerte sich ebenfalls negativ. „Es ist wegen der Fremden auf jeden Fall unbequemer geworden. Natürlich gibt es auch gute Dinge wie die neue Straße, aber das ändert für mich nicht wirklich viel.“
 
Beide Frauen kritisierten, dass viele Einwohner von dem Touristenboom nicht wirklich profitierten. Vor allem der Lärm sei ein Ärgernis. Die Touristen kämen zu jeder Tag- und Nachtzeit und sprächen laut ohne jede Rücksicht auf die Anwohner.
 
Wie um diesen Punkt zu unterstreichen, erschien just in dem Moment eine Gruppe von gut gekleideteten Frauen und Männern im mittleren Alter, die aus Seoul kamen, und machte Lärm. Sie sprachen laut in ihre Handys und miteinander, während sie sich selbst vor der Kulisse fotografierten.
 
Ein solches Verhalten ärgert die Ladenbesitzerin, die anonym bleiben wollte. „Ich sehe, wie andere Koreaner hierherkommen und laut Dinge von sich geben wie: Wie können die Leute hier nur leben?“ Viele Besucher kommen sicher wegen der Schönheit des Ortes, doch für einige wohlhabende Koreaner mag Gamcheon vor allem wegen seiner hübsch verpackten Armut reizvoll sein. Man könnte von einer milden Form des „Slum-Tourismus“ sprechen.

Die richtige Balance

Die finanziellen Vorteile für das Dorf allgemein sind jedoch unbestritten. Die Geschäfte, die das Dorf verwaltet, erzielten 2016 zusammen einen Umsatz von einer Milliarde Won (ca. 800.000 Euro), so Vizepräsidentin Jeon. Das Sozialunternehmen beschäftigt 25 reguläre Arbeitnehmer und 120 Teilzeitkräfte. Hinzu kommt die Belebung des Stadtviertels, die durch Menschen auf den Straßen entsteht.
 
Die vordringlichste Aufgabe des Dorfausschusses ist es nun, eine Balance zwischen den Erwartungen der Besucher und den Forderungen der Einwohnerinnen nach einem ruhigen Leben zu finden. Aus diesem Grund dürfen die Geschäfte im Sommer nur bis 18 Uhr und im Winter bis 17 Uhr geöffnet werden, erklärt Jeon. Außenfassaden dürften zudem nicht verändert werden und Franchising sei verboten.
 
Aber auch Jeon steht dem kommerziellen Erfolg ihres Dorfes zwiespältig gegenüber.“ Offen gesagt, ich wünschte, es käme nur eine überschaubare Anzahl von Besuchern. Das Dorf soll ein echtes Freiluftmuseum sein, aber ich will auch, dass die Bewohner hier gut leben können.“