Heimatklänge
Klänge von Zugehörigkeit und Andersartigkeit

Klänge in der Nachbarschaft
Klänge in der Nachbarschaft | © Ira Goldbecher

Heimat – was ist das? Wieviel Heimat braucht man? Welche Klänge geben einem das Gefühl, zu Hause und daheim zu sein? Mit einer Vielzahl von Fragen und Klängen reiste die deutsche Künstlerin und Dramaturgin Ira Goldbecher nach Varanasi, um nicht nur Antworten zu finden, sondern auch Klanglandschaften, die so ganz anders sind als die, die sie aus ihrer Heimat kennt...

Der Audio-Gang durch die Straßen von Assi Ghat ist das Ergebnis meiner Nachforschung zu Klängen und zu Vorstellung von Heimat. Das Wort Heimat bezeichnet – im Deutschen– mehr als nur den Ort, an dem man geboren ist. Es benennt auch das eigene Verständnis für den Wohnort und dessen emotionale Bedeutung; es steht für ein besonderes Wissen und erwartbares Verhalten von anderen und es kann auch eine Form der Kontrolle der eigenen unmittelbaren Umgebung sein. Auf anderer Ebene ist diese Vorstellung von Heimat auch nützlich, um die Klänge des Ortes zu benennen, an dem man lebt. Wird Heimat also von den Klängen bestimmt, die unsere unmittelbare Umgebung ausmachen? Und sind wir überhaupt in der Lage, diese Klänge wahrzunehmen, oder sind sie zum Verstummen gebracht?

Was die Wissenschaft sagt…

Da die Wahrnehmung von Lärm und Klang überwältigend sein kann, versteht sich das Gehirn auf die Selektion. Die Mehrheit aller Alltagsklänge ist in einem Teil des Gehirns gespeichert, dem Sinnesspeicher. Mit Hilfe des (Langzeit-)Gedächtnisses aus den Beständen des Sinnesspeichers ist es dem Gehirn möglich, die Bedeutung von wahrgenommenen Klanginformationen zu untersuchen. Vertraute Klänge werden vom Gehirn nicht weiterverarbeitet (etwa 90-95% dessen, was wir hören), während akustische Stimuli ihren Weg in Bewusstsein finden. Es stellt sich nun die Frage, ob jemand ein zeitweiliges Gedächtnis von Klängen aus dem Wohnumfeld anlegt; Klänge, die wahrgenommen und doch nicht weiterverarbeitet werden, weil sie als „identifizierbar, bekannt und wiederkehrend“ klassifiziert werden können.

 
Wonach Max Frisch fragt...

Der 1991 gestorbene Schweizer Autor wurde im späteren Leben zum ausgesprochenen Kritiker seines Heimatlandes. Während er in den USA herumreiste und lebte, verfasste er 1971 einen Fragenkatalog zum Thema Heimat. Die Frage spiegelt seine Haltung in Bezug zur Heimat als ein Schlüsselelement für Identität und Zugehörigkeit. Nach der Übersetzung seiner Fragen ins Englische führte ich sechs Interviews in zwei Ländern (Österreich und Indien), um etwas über unterschiedliche Vorstellungen zur Heimat zu erfahren. Ich teilte die Interviewten drei Gruppen zu: den Einheimischen (die in ihren Geburtsländern leben), den Migranten (die in Ländern ihrer Wahl leben) und den Flüchtlingen (die aufgrund von anderen Umständen in fremden Ländern leben). Ihnen allen wurden nicht nur die gleichen Fragen gestellt und sie alle nach ihren Vorstellungen von Heimat befragt, sondern auch gebeten, Klänge ihrer Heimat zu benennen, die sie aus lauter Gewohnheit eigentlich gar nicht mehr hören.

Indem er die Idee einer zeitweiligen Erinnerung an nicht-hörbare Klänge zum Ausgangspunkt macht und mit den Einsichten aus den Interviews zum Thema Heimat verbindet, versucht der Audio-Gang die Stummheit der Wahrnehmung umzukehren, indem ich hörbare Klänge aus meinem Heimatort in Österreich mit visuellen Eindrücken von Assi Ghat, Varanasi, zusammenbrachte. Dadurch bewegt man sich nicht nur durch einen Raum, der durch audio-visuelle Gegensätze konstruiert wurde, sondern vermag auch die eigenen Vorstellungen dessen zu befragen, was Heimat für einen selbst bedeutet.