Ariane Koch
Die Aufdrängung
Ariane Kochs Roman „Die Aufdrängung“ ist eine fantasievolle Reflexion über die Moral der Gastfreundschaft.
„Ich interessiere mich für absurde Momente und Motive. Ich denke, das Surreale kann, wie der Humor, dazu dienen, machtvolle Aussagen über die Realität zu treffen.“
von Prathap Nair
In einem abgelegenen Schweizer Gebirgsstädtchen trifft eine unerschrockene junge Frau auf einen Fremden. Die Frau, selbst eine Eigenbrötlerin, die im alten Haus ihrer Eltern lebt, hatte sich in der Vergangenheit bereits entschlossen, ihren Heimatort hinter sich zu lassen, den sie im Innersten verabscheut. Doch diesen Fremden, der ihr zu zart für diese verrückte Welt erscheint, möchte sie instinktiv beschützen. Deshalb erbarmt sie sich seiner und nimmt ihn mit nach Hause.
So beginnt Ariane Kochs surrealer Roman Die Aufdrängung. Er entspinnt sich in kurzen, prägnanten Kapiteln in Form eines Bewusstseinsstromes, der die Beziehung zwischen dem Fremden, der nur als „der Gast“ in Erscheinung tritt, und der namenlosen Erzählerin in ihrer Entwicklung verfolgt. Die großen, übergreifenden Themen des Buches sind Migration, Nationalismus, Extremismus und die Frage, wann die Überbeanspruchung der Gastfreundschaft beginnt. Koch sagt, die Idee zu dem Roman sei ihr auf dem Höhepunkt der sogenannten europäischen Flüchtlingskrise 2016 gekommen.
Der Fremde zieht also ein und nimmt nach und nach den Wohnraum der namenlosen Erzählerin in Beschlag, bis erste Risse in der neu sich formenden Beziehung sichtbar werden. Die Situation verschärft sich zusehends und die Erzählerin beginnt, mit ihrer Entscheidung zu hadern, während der Fremde sich mehr und mehr Freiheiten anmaßt: Er gibt eine Party, raucht ununterbrochen und wird von seiner Gastgeberin zunehmend als störend empfunden, seine fortgesetzte Anwesenheit als unaufhaltsame Katastrophe, Haus und Hof verwüstend.
Frustriert greift sie zu restriktiven Maßnahmen. Sie installiert ein großes Schloss an der Haustür und versteckt alle Telefone. Sie sperrt alle potentiellen weiteren Gäste aus und verfasst eine Hausordnung, die sie in einem „Heiligen Buch“ niederlegt – und die der Gast dennoch missachtet. Das existentielle Ringen zwischen der Erzählerin und ihrem Gast wird von der Hauptfigur in Kochs Roman Die Aufdrängung durch absurde und skurrile Beobachtungen garniert.
Hat der fremde Besucher die Gastfreundschaft der Hausherrin bereits überstrapaziert? Was geschieht mit jemandem, der kurzerhand aus seinem, wie er meinte, neuen Zuhause geworfen wird? Derartige Fragen ziehen sich durch Kochs schmalen und doch gehaltvollen Roman. Die Aufdrängung gewann 2021 den aspekte-Literaturpreis des ZDF sowie 2022 den Schweizer Literaturpreise. Die englische Übersetzung wurde in die Longlist des Republic of Consciousness Prize der Independent Presses für die USA und Kanada aufgenommen.
Die Aufdrängung lebt nicht zuletzt von der eigensinnigen und fantasievollen Prosa der Schweizer Autorin Ariane Koch, die von Damion Searls mit scharfsinniger Präzision ins Englische übertragen wurde. Der Roman hinterfragt die bisweilen geheuchelte Moral der Gastfreundschaft, die allzu oft durch latenten Nationalismus oder Fremdenfeindlichkeit übermannt wird. Koch, die an der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Basel (HGK) unterrichtet, gewährte uns Einblicke in ihren Denkprozess und die Entstehung von Die Aufdrängung.
Frau Koch, erzählen Sie uns, was Sie zur Schöpfung der grüblerischen und beinahe selbstzerstörerischen Erzählerin und des Gastes in Ihrem Roman inspiriert hat. Wie kamen Sie auf diese Figuren?
Am Anfang stand das Interesse an der Gastfreundschaft und der philosophischen Bedeutung des Gastes. Damals im Jahr (2016) war ich selbst oft zu Gast und es war außerdem das Jahr der sogenannten Flüchtlingskrise in Europa. Ich war fasziniert von der vielschichtigen Bedeutung des Zu-Gast-Seins, sowohl im privaten wie auch im politischen Bereich. Die Erzählerin war ursprünglich ein „Wir“ und wurde erst stückweise mit dem Schreiben ein „Ich“. Ich wollte die Art und Weise thematisieren, wie in der Gesellschaft über das Fremde gesprochen wird, wo so viel auf den Gast oder die Gästin projiziert wird, ohne dass diese je die Chance hätten, für sich selbst zu sprechen.
Die Erzählerin lebt noch immer in ihrem Elternhaus im selben Dorf. Kann man sagen, dass Sie das Prinzip des Bildungsromans auf den Kopf gestellt haben, mit einer Protagonistin, die nicht erwachsen werden will?
Ja, das halte ich für eine interessante These! Ich habe mir den Roman auch immer als Anti-Heimatroman gedacht, denn obwohl er Nationalismus thematisiert, lehnt er ihn zugleich ab. Letztendlich ist es der Andere und Unbekannte (der Gast), welcher der Erzählerin zu ihrer Transformation verhilft, und dazu, schließlich wegzuziehen.
Die Erzählerin spricht davon, der Gast sei ihr „wissenschaftliches Experiment“. Man bekommt das Gefühl, Sie nähmen damit Elemente der „Gothic Fiction“ auf, neben den anderen surrealen Aspekten des Buchs. Erzählen Sie uns von diesen Deutungsebenen.
Das mag nicht nur an diesem Text liegen, sondern an meinem Werk im Allgemeinen. Ich interessiere mich für absurde Momente und Motive. Ich denke, das Surreale kann, wie der Humor, dazu dienen, machtvolle Aussagen über die Realität zu treffen. Für mich wurden viele Bilder und Formulierungen durch die Medien verschlissen, sodass sie an Bedeutung eingebüßt haben. Das Surreale andererseits kann neue Bedeutungen erschaffen und so zum Diskurs beitragen.
Wer sind Ihre literarischen Inspirationen und wen haben Sie gelesen, als Sie ihren Roman schrieben?
Ich denke, wenn man aufmerksam liest, kann man vor allem Einflüsse von Jean Paul, Donatella Di Cesare, Siri Hustvedt, Robert Walser, Thomas Bernhard und Mikhail Bulgakov entdecken.
Über die Autorin
Geboren in 1988 in Basel, studierte Bildende Kunst und Interdisziplinarität in Basel und Bern. Koch ist Autorin von Theater-, Performance-, Hörspiel- und Prosatexten sowie Dozentin am Institut für Vermittlung von Kunst und Design an der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Basel. Ihr Debütroman "Die Aufdrängung" [2021] wurde mit dem aspekte-Literaturpreis und dem Schweizer Literaturpreis ausgezeichnet.