Durch den deutschen Alltag: Spiele-Edition
„Mensch ärgere Dich nicht – es ist doch nur ein Spieleabend“
Spiele sind überall gleich – und doch nie dasselbe. Zwischen „Mensch ärgere Dich nicht“ und „Bargis“ lässt sich nicht nur entdecken, wie sehr ein Spieleabend von Kultur geprägt ist, sondern auch, wie vertraut sich Fremdes anfühlen kann. Ein Ausflug in die Welt der Spiele mit Autor*in Ahmad Kalaji.
Von Ahmad Kalaji
Es ist Sommer, meine liebste Jahreszeit. Ich schlendere durch die Straßen von Köln, begleitet vom Zwitschern der Vögel, während meine Gedanken zurückreisen in die Zeit vor meiner Ankunft in Deutschland. Zehn Jahre lebe ich inzwischen in Deutschland und manchmal denke ich, ich habe das Land am Spieltisch besser kennengelernt als irgendwo sonst. Zwischen Mensch ärgere Dich nicht und Bargis, zwischen Sahra und Spieleabend, habe ich gelernt, wie unterschiedlich Nähe aussehen kann. Und wie ähnlich sie sich manchmal anfühlt.
Lasset die Spiele beginnen
Syrien, 22 Uhr, an einem Donnerstagabend. Bei meiner Oma klingelt es ununterbrochen, nach und nach treffen die Familienmitglieder ein. Bald verteilen sich alle zwischen Küche, Flur, Wohnzimmer und Terrasse, bis schließlich alle da sind und die Sahra (سَهْرَة) beginnt, das abendliche Zusammensitzen, das oft bis tief in die Nacht dauert.Der Abend beginnt wie immer: Willkommenskaffee, süßer Kuchen und Gespräche über Alltag, Politik und Gesellschaft. Doch irgendwann steigt die Spannung, bis endlich der magische Satz fällt: „Spielen wir?“ Plötzlich verwandelt sich der Raum. Stühle werden gerückt, ein großer runder Tisch freigeräumt. Alle laufen durcheinander, bis schließlich jeder seinen Platz findet. Ein Ritual, das zur Sahra gehört.
Im Spiel und in der Liebe ist alles erlaubt
Am Ende des Raums, neben der Balkontür, sitzen vier Spieler*innen an einem großen hölzernen Tisch und spielen Trex, ein strategisches Kartenspiel aus der Levante-Region, das ein fester Bestandteil der Sahra ist. Meine älteste Tante gegen meinen Onkel, meine Mutter gegen meinen Cousin. Der Cousin darf trotz seines jungen Alters mitspielen, seine jahrelange Übung hat sich ausgezahlt. An einem anderen Tisch wartet mein Opa geduldig auf seinen Gegner. Seine Tawleh, ein Backgammon-ähnliches Spiel, liegt bereit, die Shisha glüht leise vor sich hin. Mit verschmitztem Lächeln sagt er: „Bei Tawleh habe ich noch nie verloren. Mach dich bereit!“Meine Oma hingegen mochte Bargis (برجيس), ein Mensch-ärgere-Dich-nicht-ähnliches Spiel, gespielt auf einem Stofftuch mit Metallfiguren und Muscheln. Daraus wurden manchmal richtige Turniere, bei denen um den großen Gewinn des Abends gespielt wurde. Alle saßen nebeneinander auf dem Boden, Kinder und Erwachsene bildeten das Publikum, jubelten und kommentierten lautstark jeden Zug.
Eine Regel war klar: Du darfst schummeln, solange du nicht erwischt wirst. Wirst du erwischt, fliegst du raus. Bleibst du unentdeckt, darfst du damit am Ende angeben. Schummeln ist Teil des Spiels, erhöht die Spannung und beweist gewisse Intelligenz.
Ob hier wohl geschummelt wird? | Foto (Detail) © mauritius images / Cavan Images / Dreet Production
Der Spielemarathon: Eine ernstzunehmende Angelegenheit
Es ist 2016, als ich mein erstes Weihnachten in Deutschland erlebe. Unsere Wohnung duftet nach frischen Keksen. Die Tür klingelt, meine Gastmutter kommt herein, eine Fahrradtasche in der einen, eine große Tüte in der anderen Hand. „Kinder, ich habe neue Spiele für uns!“, ruft sie mit einem breiten Lächeln und stellt die Tüte ab. Und das obwohl im Wohnzimmer schon eine große Holzkommode mit hunderten Spielen steht – ebenfalls von meiner Gastmutter geerbt. Es folgen drei Tage spielen und essen.Ordnung muss sein
In Deutschland sind Spieleabende anders als in Syrien. Alles läuft ruhig und geregelt ab. Der Tisch wird vorbereitet, Tassen und Teller beiseitegestellt, die Kekse in der Mitte platziert. Dann kommt das „Spiel des Jahres“ auf den Tisch, die Lesebrille auf der Nase. Ziel des Treffens ist das Spielen. Um Punkt 18 Uhr beginnt der Spieleabend: Die Tür klingelt, es gibt etwas zu trinken und eine kurze Unterhaltung. Dann fällt der gleiche magische Satz wie schon in Syrien an dem besagten Abend: „Spielen wir?“.„Ich lese mal die Anleitung vor“
Meine Gastmutter, ihre Freund*innen, mein Bruder und ich setzen uns zusammen. Meine zehnjährige Gastschwester möchte nicht mitspielen – aus Angst zu verlieren. Zwei Personen beugen sich über die Anleitung und lesen abwechselnd langsam und deutlich vor. Alles muss stimmen. Das Wichtigste dabei sind Regeln, Regeln und noch mehr Regeln. Schummeln ist hier streng verboten und wird hart bestraft. Doch trotz aller Strenge wird auch hier gelacht.Spielen gehört für mich in Deutschland einfach dazu – besonders auf langen Zugfahrten, die sich endlos anfühlen. Wizard, Elfer Raus oder Uno dürfen hier ebenso wenig fehlen wie im Zelturlaub, vor allem, wenn es regnet. Spiele agieren oft als Eisbrecher, wenn Menschen sich noch nicht kennen, egal ob mit oder ohne Glas in der Hand. Spieleabende hierzulande sind geplant und getaktet, das Spiel steht im Mittelpunkt. Es geht um Spaß und um den Wettbewerb.
Neues Spiel, neues (Heimat-)Glück
Wenn ich an Deutschland denke, erinnere ich mich an all diese Momente, die mich durch das Spielen Stück für Stück Teil der Kultur und Gesellschaft werden ließen. Nicht nur Sprache öffnet Türen zur neuen Heimat – auch das gemeinsame Erlebnis des Spielens schafft Verbindungen. Es bringt Menschen zusammen, lässt sie lachen, manchmal weinen oder schimpfen – und verbindet auf eine Weise, die Worte allein nicht schaffen.Sei es Mensch ärgere Dich nicht oder Bargis, das laute Chaos bei meiner Oma oder die ruhige Ordnung bei meiner Gastmutter. Sie sind beide ein Teil von mir, meinen Erinnerungen und meinen Kulturen, die sich zwischen Spieleabend und Sahra begegnen. So zeigt mir jedes Spiel aufs Neue, dass Nähe überall zu Hause sein kann – unabhängig von Sprache, Regeln oder Herkunft.