Migration – Emigration – Flucht
Wenn die Gegenwart sich selbst historisch wird

Briefwechsel
Briefwechsel | Foto: © Colourbox.de/Goethe Institut Max Mueller Bhavan New Delhi

Lieber Aman,

danke für deine Mail, die mich in zwei verschiedene Richtungen geschickt hat. Weit zurück, nach Mesopotamien und an den Ursprung von allem. Und auch nach vorne in eine Zukunft, deren Zeichen wir erst erkennen. Aber so leben wir gerade, die Zeit läuft gleichzeitig vorwärts und rückwärts. Das wiederum, so geht die rapide Dramaturgie unserer Kaskadenkonversation, hat mich an etwas erinnert, das ich vor ein paar Tagen gelesen habe, ein Text in der "New York Times", in dem über neue Erkenntnisse der Quantenmechanik berichtet wurde. Physiker der Universität Delft in den Niederlanden haben demnach in einem Versuch festgestellt, dass Objekte, in diesem Fall kleinste Teilchen, sich wechselseitig beeinflussen, selbst wenn sie weit voneinander entfernt sind.
Lieber Aman,
 
wie soll man, wie kann man von den Flüchtlingen erzählen? Von Flucht? Von dem, was die Menschen antreibt? Von dem, was die Menschen mitbringen? Von dem, was die Menschen sind?

Du hast sehr früh in unserer Unterhaltung gesagt, dass das Bild nicht eines von Not und Elend, von Abhängigkeit und Angst sein sollte, weil dieses Bild nicht nur wiederum Ängste speist, bei all denen, deren Ressentiment groß, grau und gewalttätig ist – sondern auch und vor allem, weil dieses Bild den Flüchtenden, den Reisenden, den Wanderer erniedrigt, ihn entrechtet, symbolisch dieses Mal, weil es ihn zu einem Objekt macht, der Politik, des Mitleids, der Hilfe oder des Hasses, weil es ihn nicht zu dem Menschen macht, der er ist, Musafir, frei, selbst wenn er verfolgt wird.

Ich glaube, das ist immer noch die beste Lektion, die ich in den vergangenen Monaten gelernt habe. Es ist der Versuch, den anderen wirklich als einen Menschen mit Handlungsmöglichkeiten wahrzunehmen, und erst diese Handlungsmöglichkeiten machen ihn zu einem freien Menschen. Wenn man ihm diese Freiheit nimmt, im Bild, im Text, im Reden, nimmt man ihm das, was ihn antreibt, was ihn ausmacht. Wie schwer aber ist es für so viele, über dieses erste Bild von Elend und Not hinwegzusehen. Wie einfach ist es, sich dieses Bild zu erhalten, weil es die Grenze ziehen lässt zwischen denen und uns, selbst für die, die helfen wollen.

Ich saß vor ein paar Tagen mit einigen Fotografen auf einem Podium und sprach mit ihnen über ihre Bilder. "Flucht ins Bild", so hieß die Veranstaltung. Einer der Fotografen, Kai Löffelbein, war im Sommer 2015 auf Lesbos und machte dort dramatisch ausgeleuchtete Fotos in Schwarz-Weiß. Ein Schlauchboot vor den Klippen. Ein Vater mit seiner Tochter auf den Schultern. Schwimmwesten. Junge Männer beim Rasieren. Eine Menge vor einer Fähre. Es waren Bilder, die von dem Bewusstsein bestimmt waren, wie es der Fotograf selbst sagte, dass sich hier etwas Historisches ereignet. Es war seine eigene Entscheidung, nach Lesbos zu fahren, erzählte der Fotograf. Das Pathos, so schien es, war auch eine Art Schutz davor, das, was er sah, entgleiten zu lassen.

Es war kein falsches und auch kein störendes Pathos, es war einfach eine ästhetische Form für seine eigene Verstörung, glaube ich. Er zeigte die Menschen auf der Flucht stark, wie ich fand, und der Fotograf sagte selbst, wie er manche Dinge nicht fotografiert habe, wie er die Kamera weggedreht habe, weil er das Leid der Menschen nicht ausstellen wollte. Er reagierte aber anders auf die Einsicht, dass er das, was diese Menschen fühlen, sehen, erlebt haben, nie verstehen wird, als eine andere Fotografin, die auch auf dem Podium saß. Er schaute weiter hin, während sie sich entschied, woanders hin zu schauen. Ihre Bilder waren analytisch, bürokratisch, fast schon kriminalistisch, es waren Fotos von Akten, von Reihen von Regalen, es war die Apparatur der Flucht, die sie interessierte, also die Mechanik von Erfassung und Aufnahme, wie sie in Deutschland funktioniert – diese Fotografin, Sibylle Fendt, nahm damit in gewissem Sinn eine Gegenposition ein, sie setzte dem Drama der Flucht das Nicht-Drama der Verwaltung gegenüber, sie zeigte, ganz explizit, keine Menschen.

Was mich an den Bildern der beiden so seltsam berührt hat, war aber, neben der menschlichen Wucht und der konzeptionellen Klarheit, die Einsicht, wie historisch dieses Situation von vor einem Jahr dieser Gegenwart schon wieder geworden ist. Es waren Fotos, die von einem anderen Bewusstsein geprägt waren als dem des politisierten Geschacheres um Quoten und absurde Rückführ-Deals mit der Türkei. Es waren Fotos, die sich erstmal dem öffneten, was sich ereignete, vor aller Augen, weit weg und doch sehr nah. Es waren Fotos, die keine Auftrag hatten, die im besten Sinne nichts wollten, als das darzustellen, was war, mit den ästhetischen, intellektuellen und letztlich auch moralischen Mitteln, die den Fotografen zur Verfügung standen.

Was aber würde das bedeuten, wenn die Gegenwart sich selbst historisch wird, zumindest in den Augen derjenigen, die in den Ländern sitzen, die sich immer mehr abschotten? Die Zeit ist so kurz und so knapp, in der wir leben, sie wird eng, besonders für die, die hineindrängen. Denn die Zeit ist nicht für alle da, sie ist nicht für alle gleich. Viele leben länger, weil sie können, viele leben kurz, weil sie nicht können. Es ist eine fundamentale Ungleichheit, die die Welt erschüttert, nicht nur ökonomisch, sondern ontologisch. Was viele in Deutschland und in anderen Ländern des Westens nicht verstehen, das ist, das, wie Bernie Sanders sagt, wie der Papst sagt (habe ich den Papst zitiert, omg!): Wenn ein Mensch leidet, leiden alle Menschen.

Die Legitimiation für diese Ordnung, die viele Demokratie nennen, bricht und bröckelt, wenn die Opfer, die zum Schutz dieser Ordnung nötig sind, immer größer werden. Gerechtigkeit existiert nicht unbeschadet. Menschenrechte sind nur universal denkbar und möglich oder gar nicht. Was aber gerade geschieht, ist ein Abschied von der Idee der Universalität. Der Relativismus herrscht, von rechts. Die Schwäche ist auf Seiten der Linken. Dazwischen entsteht ein Vakuum, das die Gegenwart sein könnte. Aber, wie gesagt, sie ist sich selbst historisch geworden, die wie eine schlechte Fußnote der Postmoderne wirkt. Ist das alles wirklich geschehen? Ist das alles wirklich passiert?

Ich werde versuchen, in den kommenden Wochen etwas Arthur Koestler zu lesen, weil er immer gegen die Lügen gelebt hat. Ich werde Achille Mbembes neues Buch über die Politik der Feindschaft lesen. Ich werde mir bald den Film ansehen, den Marcel Mettelsiefen über eine Familie in Aleppo gemacht hat und über deren Flucht. Ich werde, so hoffe ich, dich begleiten, nach Lesbos, zum Ort, an dem die Gegenwart auf sich selbst trifft. Ich will, seltsam, einen Beweis, ich weiß nur nicht ganz genau, wofür.

Wir werden es herausfinden. Sei, Aman, wie immer herzlich gegrüßt.
Georg

Berlin, den 21. April 2016
Albert Einstein hatte sich immer gegen diese Theorie gewehrt, er sagte, dass sei so, als würde Gott seine Würfel wie im Glückspiel werfen. Was Einstein beunruhigte, war die Frage, ob es außer dem Universum, das wir kennen, noch mehr Universen geben könnte, potentiell unendlich viele. Ob es außer der Realität, wie wir sie akzeptieren, noch eine andere gibt, potentiell unendlich viele. Ob es außer der Welt, die wir die unsere nennen, noch andere gibt, potentiell unendlich viele. Oder, wie es John Markoff in der "New York Times" beschreibt, "the existence of an odd world formed by a fabric of subatomic particles, where matter does not take form until it is observed and time runs backward as well as forward".
Diese Formulierung ist in vielerlei Hinsicht faszinierend. Teile, die erst dadurch Form bekommen, also Realität werden und damit wahrnehmbar – indem man sie wahrnimmt.

Die Wahrnehmung erst konstitutiert Realität. Und eben die Zeit, die vorwärts und rückwärts läuft. Was ja die Frage beeinhaltet, ob die Zeit, die rückwärts läuft, die Abwicklung dessen ist, was sich vorher ereignet hat. Eine umgekehrte Moderne also, deren Ergebnisse, Formen, Triumphe sich wieder in das verwandeln, was vorher war. Was aber würde das bedeuten für Demokratie, Menschenrechte, Individualismus, Säkularismus, Nation, Staat? Ist es das, was du meinst, wenn du von der Krise des Staatsverständnisses sprichst, von einer neuen Art von Denken, anderen Worten, anderen Philosophien und einer Freiheit, die nicht aus der Willkür der Nation entsteht und der zufälligen Zuschreibung, dass Deutscher ist, wer als Deutscher geboren wird, und Syrer, wer als Syrer geboren wird? Dass also Leid gewissermaßen angenommen werden muss qua Geburt, und dass die Freiheit nur für die gilt, die frei sind, sie zu reklamieren?

Aber Atome, Teilchen, die getrennt werden, korrespondieren, sie reagieren aufeinander, auch wenn sie Tausende von Kilometern entfernt sind, das zeigen die Tests der Physiker aus Delft. Doch was bedeutet das für unser Denken? Du hast richtig gesagt, Geld fließt frei, Menschen scheitern an Grenzen. Das ist ein unhaltbarer Zustand, eine persönliche und moralische Beleidigung stellvertretend für die gesamte Menschenheit. Lange, lange haben Leitartikler und andere professionelle Welterklärer davon gesprochen, dass in einer globalisierten Welt alles mit allem zusammenhängt. Aber dieses Denken war rein vom Ökonomischen geprägt und hat alles auf das Ökonomische reduziert. Es wurde einfach ausgeblendet, was es heißen würde, wenn auch die Menschen sich so frei bewegen, wie es das Kapital tut. Das Geld wurde freigesetzt, und das hatte Konsequenzen. Nun folgen die Menschen. Auch das hat Konsequenzen. In gewisser Weise stehen heute beide nackt da, drastisch in ihrer existentiellen Härte: der Markt und der Mensch.

Denn die Menschen, die kommen, werden reduziert. Sie sind nicht mehr, als sie sind. Sie haben nicht mehr, als sie haben, und wer ihnen auch noch die Würde nimmt, der lässt ihnen nur noch die Plastiktüte, mit der sie seit Monaten unterwegs sind. Sie sind das nackte Sein, bar jeder Zivilisation. Und die Zivilisation reagiert, indem sie sich verleugnet. Manche jedenfalls, und ich fürchte, es könnte sein, dass es mehr werden. Das ist der tägliche Schock der Bilder, das ist der tägliche Schmerz beim Betrachten. Die Menschen in langen Reihen, die durch das Niemandsland wandern, mal ist es Slowenien, mal Kroatien, mal Österreich, der Regen, der Matsch, das Grün der Landschaft grausam, fast zynisch, unbeweglich, ewig, während der Mensch, die Menschen, die Familien verletzlich und vergeblich und dabei trotzig voranziehen, ungewiss, was kommen wird, nur sicher, dass sie hinter sich gelassen haben, was sie schreckt, schmerzt, bedroht. 

Es ist ein Treck von Nomaden in einer Welt, die das Nomadische doch vor vielen Tausend Jahren hinter sich gelassen hat. So heißt es jedenfalls. Aber vielleicht ist es anders. Und was du sagst, ist richtig: Der Mensch ist alt, es ist etwas in ihm, er macht sich auf, immer wieder, es ist eine alte Geschichte, und sie wiederholt sich gerade. Die ganze Zeit ist immer da, die ganze Geschichte der Menschheit, in diesen Bildern, sie bricht durch die Oberfläche einer Gegenwart, die diese anthropologische Tiefe vergessen wollte, vergessen hatte. Es drängt gerade etwas durch, und das macht Angst. Sie laufen, laufen, laufen, so scheint es, es ist der Urzustand des Menschen, dass er läuft, und es ist doch verblüffend neu und unerwartet, das so zu sehen. 

Diesen Schock muss man zulassen, in Sprache und Gedanken. Erst dann kann man vielleicht verstehen, was man dort sieht, was dort geschieht. Aber Europa wehrt sich gegen diesen Schock, in Worten und Gedanken. Was gerade passiert, ist die Verwandlung von Schicksalen in Politik, von Leiden in Regeln, von Not in Maßnahmen. Es ist ein trauriges, tragisches Schauspiel, beklemmend wie eine griechische Tragödie. 

Der sechsjährige Junge also, der da auf dem Gehweg schläft, er ist dieser Junge und ist alle Jungen, er ist gerade hier angekommen und er war schon immer da. Seine Mutter, müde, sein Vater, kann er ihn beschützen?, sie sind alle Eltern, immer schon, und schieben doch einen klapprigen Kinderwagen durch den Dreck, genau hier, mitten in Berlin, wo es Szenen gibt, wie man sie sonst nur aus den dunklen Kinofilmen von Hollywood kennt, das Ende der Zivilisation als eine Fabel, die man am besten mit viel Popcorn genießt.

Der Mensch erschrickt vor nichts so sehr wie vor sich selbst. Wer ist dieser Musafir, von dem du sprichst? Ist es ein Flüchtling, ein Wanderer, ein Reisender, ein Gast? Warum reist er? Was bewegt ihn? Das sind alte, faszinierende Fragen. Die Zeitungen, die gegen die Flüchtlinge schreiben, haben angefangen, nicht mehr von Flüchtlingen zu sprechen, sondern von Migranten. Das macht die Masse handhabbar, bürokratisch bewältigbar. Sie haben angefangen, die fundamentalen Menschenrechte in Frage zu stellen. Sie sagen, dass es so nicht weitergehen kann, aber sie haben auch keine Antwort parat außer Zäunen, an denen Menschen sterben werden, und Lagern, in denen Menschen warten werden, warten, warten, bis sie nicht mehr warten und los laufen. 

Ich weiß nicht, ob es eine "Völkerwanderung" ist, was wir gerade erleben, oder doch eher die konkrete Reaktion auf konkrete Umstände, die in den vergangenen 10 bis 15 Jahren entstanden sind, durch die Krieg in Irak und Afghanistan, durch das Versagen des Westens, die Härte der Herrscher im Nahen Osten, die Armut und die Ungerechtigkeit, ein Krieg in Syrien, der ignoriert wurde, Flüchtlinge, die bleiben sollten, wo sie sind, das war doch der Plan, der Irrtum, der moralische Verrat. Die Staaten dort sind schon zusammengebrochen, der Staat hier, in Deutschland, so heißt es, sei auch bedroht. Ich glaube das nicht. Es scheint eine Art self-fulfilling prophecy zu sein, fast eine Beschwörung des Notstands, so extrem ist hier inzwischen das Vokabular. Sie reden mal wieder von Weimar, weil das der große Schock des vergangenen Jahrhunderts hier ist. Es sind die Bilder, die sie abrufen können. Aber das Neue entgeht ihnen so. Und auch das Menschliche. 

Dabei gibt es so viel, was man jetzt tun könnte, was man lernen könnte, es gibt so viel, was Mut macht. Dies hier ist ein altes Land in einem alten Kontinent. Es könnte sich öffnen, es könnte sich neu erfinden. Was bedeutet es für das Denken und damit auch für die Politik, wenn das Weltbild verschoben wird? Wenn die Dinge, die Menschen, die getrennt sind, durch Tausende von Kilometern, sich in Bewegung setzen? Hat so etwas wie die Entdeckung einer multiplen Wahrheit, wie sie die Quantenmechanik zeigt, auch Folgen für eine andere Ethik? Es gibt viele Welten, die erst existieren, wenn wir sie wahrnehmen. Das ist der Schock, der gerade einsetzt, das erklärt den Hass und die Aggression, die sich nun wieder zeigen.

Das ist der Stand. Und der Winter kommt erst. 

Alles Gute,
Georg


Berlin, den 25. Oktober 2015