Migration – Emigration – Flucht
Kann sich eine Demokratie selbst nicht mehr schützen?

Briefwechsel
Briefwechsel | Foto: © Colourbox.de/Goethe Institut Max Mueller Bhavan New Delhi

Lieber Aman,

eine Sache, die ich aus unserer Korrespondenz gelernt habe, ist die Einsicht, dass das, was ein Europäer denkt, fast notgedrungen einseitig und eingeschränkt ist.
Was aber bedeutet das für die Wahl von Donald Trump zum amerikanischen Präsidenten?
Bedeutet das, dass alles gar nicht so überraschend ist, in dem Sinn, dass schlechte, lügnerische, korrupte Herrscher eher die Norm sind als die Ausnahme?

Oder bedeutet es, dass das alles erst der Anfang ist, dass also der Zusammenbruch der Demokratie, wie ich sie kenne, noch viel dramatischer werden wird?
Oder bedeutet es, dass wir alle, wir, die wir uns Liberale nennen, erst einmal tief durchatmen sollten und verstehen, dass Politik ein Kampf ist um Macht, dass Menschen verschiedene Interessen haben und dass man manchmal verliert?

Ich weiß es wirklich nicht; ich weiß nur, dass die Verwirrung so groß und so umfassend ist, bei denen, die sich auf der richtigen Seite wähnten, und die von der anderen Seite, die Gang um Trump herum, diese Leute werden jedes Mal neu zu lachen beginnen, wenn sie sich überlegen, wie weich und verletzlich ihre Gegner sind.

Andererseits, und das ist auch wichtig zu sehen: Sie haben ja nicht gewonnen, jedenfalls nicht, was die Anzahl der Stimmen beginnt. Und da fängt für mich das eigentliche Problem dieser Wahl an.
Dieses Land, in dem ich mich so oft so wohl fühle, ist ein Land, in dem die Wahlen, die frei sein sollten und unabhängig, über viele Jahre so manipuliert wurden, dass es wirkt wie eine korrupte Oligarchie.

Ich habe das schon vor ein paar Jahren geschrieben, als Leute wie der New-York-Times-Kolumnist und Nobelpreis-Träger Paul Krugman etwa davon sprachen, dass die USA keine Demokratie mehr seien.
Aber jetzt, wo man die Konsequenzen so deutlich sieht, ist es doch etwas anderes: In Wisconsin etwa, wo die Republikaner seit vielen Jahren die Wahlbezirke mit großem Aufwand neu vermessen, damit sie die gewünschten Ergebnisse bekommen, weil möglichst viele Schwarze und Arme, und immer noch ist das oft dasselbe, in den gleichen Wahlbezirken wählen.

Oder die Schwierigkeiten, die viele Wähler damit hatten, sich ausreichend für die Wahl zu identifizieren – was dazu geführt hat, dass in einem Staat, der knapp an Trump ging, mehrerer Zehntausende von Menschen, vor allem Schwarze und Arme, nicht wählen konnten.

Solche Berichte weisen auf das strukturelle Problem dieser wohl immer noch zweitgrößten Demokratie der Welt hin – und ich würde gern wissen, wie du das siehst, aus der Perspektive von jemandem, der in der größten Demokratie der Welt lebt?

Der Konflikt etwa, der in den USA herrscht zwischen dem Land, das mehrheitlich für Trump gestimmt hat, und der Stadt, wo Hillary Clinton mehr Stimmen bekommen hat, gibt es diesen Konflikt in Indien auch – und wie geht er aus, wie wird er gelöst oder nicht gelöst?

Die Absurdität, dass ein Milliardär mit einem Kabinett von Milliardären und Insidern sich zur Hoffnung der einfachen Leute erklärt und viele einfachen Leute das zu glauben scheinen und damit ziemlich deutlich gegen ihre eigentlichen Interessen votiert haben – kennst du das aus Indien, würdest du so den Sieg von Modi erklären?

Und der Gedanke, dass eine Demokratie sich selbst nicht schützen kann davor, mit demokratischen Mitteln in etwas anderes, autoritäreres verwandelt zu werden – ist das die Geschichte unserer Tage, von den USA bis zu Europa und womöglich auch in deinem Land?
Oder ist es anders, sind die Verhältnisse viel stabiler, und wir, also die Wohlmeinenden, müssen nur lernen, mit den Niederlagen besser umzugehen, wachsam zu sein, wenn die Unterdrückung zu offensichtlich wird, die Kräfte zu sammeln und neu anzugreifen?

Ist das der Gang der Dinge?

Mich würde interessieren, wie du diese Wahl siehst, die manche damit erklärt haben, dass es eben einen Aufstand gegen die Globalisierung gebe, der von Links begonnen wurde und nun von Rechts beendet wird.

Ich glaube, dass an dieser Interpretation etwas dran ist, allerdings nur, wenn man sich auf den vagen und an sich ziemlich unbrauchbaren Begriff der Globalisierung einlässt oder beschränkt.
Denn wissen wir wirklich, was wir meinen, wenn wir von der Globalisierung reden? Oder ist das nur ein abstrakter Begriff, der verschleiert, wie unklar wir uns darüber sind, wie die Verhältnisse in der Welt verbunden sind und wie die Veränderung der bisherigen und der zukünftigen Verhältnisse vonstatten geht?

Was der Begriff auf jeden Fall tut, er beschreibt ein Problem: Die Art und Weise, wie sich gerade auch viele auf Seiten der Linken dem Gang der Ereignisse, also dem Export von Arbeitsplätzen und den Gesetzen einer globalen Wirtschaft wie Naturgesetzen ergeben haben.

Wir können eben nichts machen, das war die Devise, die keine Antwort war – die Antwort hört man nun, aus den überraschendsten Richtungen, sie ist aggressiv, sie ist angstgetrieben, sie macht selbst Angst.

Für mich war der Tiefpunkt des an Tiefpunkten so reichen US-Wahlkampf der Moment, an dem Donald Trump nach Aleppo gefragt wurde und der humanitären Katastrophe, die dort stattfindet.
Aleppo, war seine Antwort, Aleppo ist gefallen, und mir ist das ziemlich egal. Ich will, sagte er, dass ISIS besiegt wird, das ist mein Ziel.

Es war das Credo einer posthumanistischen Politik, einer posthumanistischen Zeit, in der Prinzipien der Ordnung, der Sicherheit, der Stabilität und des Militärs vor den Prinzipien der Menschenrechte kommen.
Ich würde argumentieren, dass diese Stabilität nicht nur durch einen zu hohen moralischen Preis erkauft wird, sondern auch trügerisch ist, denn auf Ungerechtigkeit kann man auf Dauer keine Ordnung bauen.
Aman, du kennst dich in den Widersprüchen der politischen Argumente besser aus als ich, glaube ich, du bist in manchem näher an dem Geist unserer Zeit, denke ich, und unsere Gespräche haben mich verändert, weil ich mich, hoffe ich, nicht so leicht dem Pessimismus hingebe.

Wie hat Barack Obama gerade gesagt: Roll up your sleves, es ist Zeit zu arbeiten. Gegner gibt es immer, es geht darum, nie aufzuhören, für das zu arbeiten, an was man glaubt.
Ich hoffe, dir geht es gut. Erzähl mir von dir und Delhi und der Luft, die man nicht atmen kann, und dann, lieber Aman, erzähl mir etwas Schönes.

Wie immer, sehr herzlich,
dein Freund Georg

Cambridge, den 5. Dezember 2016