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Max Mueller Bhavan | Indien

Lateinamerika
Das Recht, Rechte zu haben

Illustration von Hannah Arendt, die mit einer Taschenlampe eine Karte Lateinamerikas beleuchtet.
Illustration: © Eléonore Roedel

Die argentinische Soziologin Claudia Bacci spricht über die anhaltende Relevanz von Hannah Arendts Denken in Lateinamerika und fragt, wer heute als „Staatenlose“ gelten könnte. 

Von Silvina Friera

Frau Bacci, welchen Einfluss hat die Lektüre Hannah Arendts in Lateinamerika?

Den größten Einfluss hatte sie ab den 1980er-Jahren im Zusammenhang mit den Redemokratisierungsprozessen nach den vorausgegangenen jahrzehntelangen Diktaturen und bewaffneten Konflikten in der Region. Ihre Werke zirkulierten aber schon wesentlich länger, schon seit den ersten Veröffentlichungen auf Deutsch und Übersetzungen durch Herausgeber und Intellektuelle, die mit der Linken, dem deutschen Antinazi- und auch deutsch-jüdischen Exil während des Zweiten Weltkriegs verbunden waren.

In Brasilien war der Jurist und Diplomat Celso Lafer eine zentrale Figur. Er war ein ehemaliger Schüler Arendts an der Cornell University und führte während der 1970er- und 1980er-Jahre Gespräche mit Intellektuellen wie Antonio Cándido, Hélio Jaguaribe und Francisco Weffort aus dem Umfeld der brasilianischen Sozialdemokratie und Linken. In Kolumbien wiederum übersetzte der Kulturkritiker und Essayist Hernando Valencia Goelkel in den 1960er-Jahren einige Texte Arendts für die Zeitschrift Eco, die sich als Brücke zwischen der lateinamerikanischen und der deutschen Kultur verstand und vom Verein Inter Nationes unterstützt wurde. Ellen Spielmann, die zur Rezeption Arendts in Kolumbien geforscht hat, unterstrich in einem Artikel von 2024, dass Valencia Goelkel als Berater des Präsidenten Belisario Betancur in den 1980er-Jahren bei den ersten Anläufen zu Friedensgesprächen mit den linken kolumbianischen Guerillas eine republikanische Perspektive Arendt’scher Färbung eingebracht habe.

In einer Arbeit über die Lektüre Arendts in Argentinien, die ich 2022 veröffentlicht habe, zeigt sich eine stark schwankende Rezeption. So gab es etwa flammende Diskussionen in jüdisch-argentinischen Zeitschriften über ihr Buch Eichmann in Jerusalem, aber auch eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber ihrer Analyse des Totalitarismus und Unverständnis für ihre Forderung nach dem Politischen, die Ende der Sechzigerjahre als elitär wahrgenommen wurde.

Während der argentinischen Militärdiktatur (1976–1983) begannen linke Intellektuelle im Exil in Mexiko und Frankreich ihre Werke zu lesen. Dabei nahm der deutsche Politikwissenschaftler Norbert Lechner in den 1980er-Jahren von Chile aus bedeutenden Einfluss auf diese Debatten. In den 1990er-Jahren spielten zudem die Forschungen Elizabeth Jelins zu Bürger- und Menschenrechten eine wichtige Rolle, ebenso die Erwägungen von Horacio González über die Verantwortlichkeit für Verbrechen des Staatsterrorismus, Héctor Schmuclers Hervorhebung von Zeitzeugenberichten bei der Schaffung sozialer Erinnerungen an diese Zeit und schließlich die Lektüre Arendts von Pilar Calveiro über „KZ-Gewalt“. Der Jurist und Arendt-Forscher Carlos Nino beriet den damaligen argentinischen Präsidenten Raúl Alfonsín bei der Verurteilung von Mitgliedern der Militärjunta, und Claudia Hilbig entwarf eine kritische Lektüre über die Beziehung zwischen Gewalt und Politik in den 1960er- und 1970er-Jahren.

Mit welchen Begriffen können die Theorien Arendts zu den Reflexionen über den Staatsterrorismus der lateinamerikanischen Diktaturen beitragen?

Die meistgebrauchten Begriffe sind die „Banalität des Bösen“, „totalitäre Herrschaft“ und „totalitärer Terror“. Wichtige Bezugspunkte sind aber auch Arendts Wahrnehmung der Rolle der Bürokratien in totalitären Kontexten und die Frage nach persönlicher und politischer Verantwortung bei der Anwendung von Gewalt. Eichmann in Jerusalem ist meiner Auffassung nach das Buch, das den Interpretationen des Staatsterrorismus und der Diktaturen in der Region die Richtung vorzeichnete. In Argentinien wies Horacio González 1989 darauf hin, dass Arendt zwar keine Referenz für das Verständnis der revolutionären Gewalt vor der Diktatur war, sie aufgrund ihrer Kritik am „blinden Gehorsam“ aber „fast argentinisch“ wurde, als es um die gesellschaftlichen Auswirkungen der Diktatur ging. Auch Schmucler schöpfte viel aus dem Denken Arendts, um die Fortsetzung des Terrors durch das Verschwindenlassen der Körper von Menschen, die durch den Staatsterror entführt wurden, ethisch zu verurteilen.

In Brasilien dachten Celso Lafer und Cláudia Perrone-Moisés über die Tragweite der Übergangsjustiz nach und griffen auf die Arendt’sche Perspektive zurück, um zu beschreiben, wie schwierig es sei, innerhalb der bestehenden Rechtssysteme die Verbrechen der lateinamerikanischen Diktaturen zu bestrafen. Sie beriefen sich auf die „Unverzeihlichkeit“ dieser Verbrechen im rechtspolitischen Sinn, um über andere Beziehungen zwischen Gerechtigkeit, Erinnerung und Wahrheit nachzudenken. Deshalb würde ich sagen, dass Arendt auch über uns hier in Lateinamerika spricht.

Nach Arendt bedeutet Staatenlosigkeit „der Verlust des Rechts, Rechte zu haben“. Aber wer sind die Staatenlosen des 21. Jahrhunderts?

Ich glaube, dass die Tragweite des „Rechts, Rechte zu haben“ heute größer ist, als Arendt ihm in ihrem Werk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft zuschrieb. Für sie hatte es sich aus dem Untergang der Nationalstaaten und der imperialistischen Expansion am Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts ergeben. Zu diesem Zeitpunkt führte der Entzug der Staatsbürgerschaft, das heißt der durch die Nationalstaaten garantierten Rechte, zu einer großen Anzahl von Flüchtlingen und Vertriebenen in Mitteleuropa und zu einer neuen Kategorie von entrechteten Individuen, den Staatenlosen.

Die aktuellen weltweiten geopolitischen, sozioökonomischen und umweltbedingten Veränderungen verleihen den Prozessen von Vertreibung, Exil und Zwangsmigration eine gewisse Kontinuität. Auch wenn die Staatsbürgerschaft nicht ausdrücklich entzogen wird, führen sie zum Verlust der damit einhergehenden Rechte. Es gibt zwar die internationalen Erklärungen zu den Menschenrechten, den Rechten auf Zuflucht und Schutz in Fällen von Krieg und anderen Arten bewaffneter Konflikte, aber diese Institutionen und die Nationalstaaten selbst scheinen unfähig oder sogar widerwillig zu sein, wenn es darum geht, das „Recht, Rechte zu haben“ anzuerkennen, ob in Europa, dem Mittleren Osten oder Lateinamerika.

In unserer Region treibt die aktuelle ökonomische und soziale Ausgrenzung sowie politische und (para)staatliche Gewalt Menschen dazu, sich auf die Suche nach einem würdigeren Leben zu machen, auch wenn dies bedeutet, ihre Rechte als Bürger eines Staates zu verlieren. Ohne im strengeren Sinn „staatenlos“ zu sein, leiden sie unter allen Konsequenzen, die der Verlust des „Rechts, Rechte zu haben“ in der heutigen Welt mit sich bringt. Flüchtlings- und Einwanderungskrisen, die Verfolgung von Verteidigern indigener Territorien und von Aktivisten gegen den Extraktivismus dauern in Lateinamerika schon seit Jahrzehnten an, und deswegen bleibt auch die Forderung nach dem „Recht, Rechte zu haben“ eine Frage der Gegenwart.
 

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