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Blick auf die brasilianische Kulturszene
„Das Museum muss durchlässiger gedacht werden“

Projekt Rizoma: Fotoreihe, die während der Pandemie entstanden ist. Belo Horizonte 2020.
Projekt Rizoma, 2020. | Foto (Ausschnitt): © Marlon de Paula

In der Pandemie entschieden sich die Museen zur Öffnung von Räumen und gingen dadurch auf einen Teil der brasilianischen Bevölkerung zu, der Kunst traditionell eher nicht nahesteht. An die Stelle der Besucher*innen tritt in sozialen Netzwerken der oder die Nutzer*in und stellt Ansprüche, provoziert und hinterfragt viel aktiver als in Präsenz.

Von Camila Gonzatto

In Zeiten der Isolation und sozialer Distanz, während der Pandemie, gelangte die Kunst über Computerbildschirme in die Haushalte. Paradoxerweise war der Kulturbereich, der sein Publikum über die langen Zeiträume der Quarantäne in den heimischen vier Wänden am Leben und bei Laune hielt, mit am deutlichsten von Kürzungen und Einschränkungen betroffen. Künstler*innen und Institutionen mussten sich neue Methoden und Strategien ausdenken, um unter der gesundheitlichen und politischen Krise des Landes weiter zu existieren. „Brasilien erlebt eine Verschmelzung von politischer und pandemischer Situation. Es ist klar, dass es ein enges Verhältnis gibt zwischen beidem und das bringt alles und alle durcheinander. Daraus entsteht diese diskursive Schwierigkeit, zu verstehen, was eigentlich los ist. Im gesellschaftlichen Leben wurde alles angehalten. Uns ist der Maßstab abhandengekommen“, konstatiert der Künstler Nuno Ramos.

Er schafft seit Ausbruch der Pandemie Werke, die sich dem Dialog stellen und über die gegenwärtige Situation reflektieren. Außer der mit dem Teatro da Vertigem entwickelten Performance Marcha a Ré, die auf der Berlinale 2020 und zu verschiedenen Anlässen in Brasilien gezeigt wurde, kreierte der Künstler auch das Projekt A extinção é para sempre (Die Ausrottung ist für immer) mit Theaterschaffenden, Musiker*innen, Filmschaffenden sowie Tänzer*innen als ein Angebot zum Nachdenken über die gegenwärtige Situation. Teil des Projekts ist die Online-Installation Chama (Flamme), ein Trauerdenkmal in Form einer Flamme, die für ein Jahr zur Erinnerung an die Toten der Pandemie brennt. Auch live gestreamte Performances sind Teil des Projekts. „Die Waffen der Kunst sind im Umgang mit der Pandemie stärker als alles andere. Dennoch glaube ich, dass es sehr schwierig ist, darüber zu reden, weil wir dabei sind, tief zu versinken in diesem Boden der Anomie, der komplett fehlenden Konsistenz“, findet Ramos.

Unabhängige Räume und große Institutionen

Ein weiteres vollständig digitales Projekt, das aus der Notwendigkeit entstand, künstlerisches Schaffen und insbesondere die Form seiner Präsentation neu zu denken, ist der virtuelle Ausstellungsraum Pivô Satélite. „Angestoßen wurde das Projekt angesichts der Unmöglichkeit, unser Programm mit Ausstellungen und künstlerischen Residenzen wie gewohnt in Präsenz weiterzuführen sowie durch die finanzielle Notlage, die in der Kunstszene schnell entstand. Für jede Ausgabe wird ein*e junge*r Kurator*in eingeladen, für vier Monate das Programm der Plattform zu entwickeln, und die Künstler*innen verwirklichen ihre Arbeiten im Rahmen eines Stipendiums“, erläutert Fernanda Brenner, künstlerische Leiterin des „Pivô“.

Auch große Museen haben nach digitalen Lösungen gesucht, um über die Zeit der gesellschaftlichen Isolation zu kommen. Die Pinakothek von São Paulo etwa hat nicht nur ihr Angebot um das Projekt „Pina em casa“ (Pina[kothek] zu Hause) erweitert, sondern auch die Online-Ausstellung Distância zusammengestellt. „Für mich verstärkt sich im Kontext der Pandemie eine Entwicklung, die schon vor 2020 erkennbar war. Museen und Kulturinstitutionen müssen zunehmend Strategien entwickeln, die eine direktere Ansprache eines immer breiteren Publikums ermöglichen, auch den Dialog mit dem Teil der Gesellschaft, der sich nicht als regelmäßige Besucher*innen und Nutzer*innen von Kultur bezeichnet oder der Kunst gleichgültig gegenübersteht. Das bedeutet, neue institutionelle Sprachen zu schaffen, vielfältigere Programme und offenere Räume, viel näher am Alltagsleben. Es müssen permanent neue Räume, Spielorte und Dialoge erdacht werden. Die Pandemie nun hat uns dazu gezwungen, das Konzept eines monolithischen Museums aufzugeben, vor allem das des Museums als Aufbewahrungsort materieller Bestände. Das Museum muss durchlässiger gedacht werden, sowohl architektonisch als auch konzeptionell“, meint Jochen Volz, Generaldirektor der Pinakothek São Paulo.

Neuerfindung der Biennalen

Die Unmöglichkeit präsenzieller Besuche von Ausstellungen führte auch dazu, dass sich Kunstbiennalen anpassen mussten, wie etwa die Biennale des Mercosur. 2020, auf dem Höhepunkt der Pandemie, wurde deren 12. Ausgabe komplett ins Netz verlagert. „Die Umwandlung geschah aufgrund der Einschnitte, die unter den Bedingungen der Pandemie verlangt waren. Mit zunehmender Verschärfung der gesundheitlichen Situation sah sich das kuratorische Team gezwungen, gemeinsam neue Wege zu finden“, erinnert sich Igor Simões, Kurator des Bildungsprojekts der 12. Mercosur-Biennale. Und nach und nach wurde aus der Website der Biennale weit mehr als eine schlichte Plattform für die Videos der beteiligten Künstler*innen. „Wir fingen an, eine Reihe von Aktionen auszuprobieren, frühere Ansätze anzupassen, aber gleichzeitig auch Strategien zu schaffen, um die Plattform als Raum zu etablieren, der über die physische Existenz einer Ausstellung hinausgeht und für die Ideen dahinter steht“, berichtet Simões.

Auch die Biennale von São Paulo musste bis zu ihrer verschobenen Eröffnung online Präsenz zeigen. Unter den digitalen Projekten, die in der Zeit verwirklicht wurden, waren ein Projekt von Korrespondenzen zwischen Kurator*innen, Künstler*innen und Mitarbeitenden, ein Diskussionszyklus unter dem Titel As vozes dos artistas (Die Stimmen der Künstler) sowie Bildungsaktivitäten. „Uns war klar, dass die Maßnahmen zur gesellschaftlichen Distanz es verlangten, dass Programme zur Vermittlung der Biennale in Richtung des Publikums vertieft und vermehrt angeboten wurden. Die Summe der Programme führte dazu, dass zahlreiche Debatten neu angestoßen wurden und schon vor der Eröffnung der Hauptausstellung stattfanden, was bei Veranstaltungen dieser Größenordnung selten ist“, sagt der stellvertretende Kurator Paulo Miyada.

Intensivere Interaktion

Neue Formen der Ausstellung und der Diskussion führten nach und nach auch zu einer neuen Interaktion mit dem Publikum. „Ich beobachte eine Veränderung im Publikumsverhalten, die aus der Zeit der Pandemie und aus dem virtuellen Kontakt mit Kulturinstitutionen stammt. Ganz offenbar ist der oder die Besucher*in zum Nutzenden geworden mit einer größeren und unmittelbareren Interaktion. In den sozialen Medien etwa stellt das Publikum Ansprüche, provoziert, hinterfragt viel aktiver als in Präsenz. Unsere große Herausforderung für die Zeit nach der Pandemie besteht darin, diese Interaktivität, die Beteiligung und den direkten Dialog dann wieder in den physischen Raum zu übertragen“, sagt Volz. Allgemein herrscht ein Konsens darüber, dass es gelungen ist, trotz der physischen Distanz einen Austausch mit dem Publikum zu etablieren, betont Simões: „Wir haben uns so sehr an ein Leben am Bildschirm gewöhnt und gesehen, dass wir trotz allem Präsenz herstellen können.“

Trotz aller in der Pandemie entwickelten Neuerfindungen und Lösungen, wird die echte Begegnung weiter als absolut notwendig angesehen. „Auch mit Verschiebungen und bei aller Unsicherheit ist uns klar, dass es die Rolle der Biennale ist, die Erfahrung von Kunst und der Begegnung von Personen und Werken in den Vordergrund zu stellen. Das zu erhalten macht Sinn“, glaubt Miyada. „Das Digitale erweitert die Möglichkeiten der Produktion, Vermittlung und Reichweite der von Künstler*innen geschaffenen Inhalte. Betrachten wir die Vielfalt, Qualität und Umfang der brasilianischen Kunstszene, ist bestimmt auch Raum für neue Initiativen und die Weiterentwicklung von Modellen, die nicht mehr der Gegenwart oder den Bedürfnissen der Kunstszene und des Publikums entsprechen“, sagt Brenner abschließend.

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