Wissenschaftliches Schreiben
Streitkultur in der Seminararbeit

Studenten müssen sich mit unterschiedlichen wissenschaftlichen Positionen auseinandersetzen.
Studenten müssen sich mit unterschiedlichen wissenschaftlichen Positionen auseinandersetzen. | © Monkey Business - fotolia.com

Gerade ausländische Studenten stellt der schriftliche Fachdiskurs auf Deutsch vor besondere Herausforderungen, erklärt Martin Steinseifer, Koordinator des Forschungsprojekts „Eristische Literalität“ an der Justus-Liebig-Universität Gießen.

Herr Steinseifer, warum trägt Ihr Forschungsprojekt zur deutschen Wissenschaftssprache den Titel „Eristische Literalität“?

Im Griechischen bedeutet „Eris“ Streit. Hinter dem Begriff der Eristik steckt die Idee, dass wissenschaftliche – und zwar vor allem geistes- oder kulturwissenschaftliche – Texte sich durch ihre sogenannte Streitförmigkeit auszeichnen: Wissenschaftler setzen sich in ihren Texten mit verschiedenen Positionen aus der Forschung auseinander, schließen sich ihnen an oder grenzen sich von ihnen ab, um auf diesem Weg neue Erkenntnisse zu produzieren. Eristische Textkompetenz ist also die Fähigkeit, im Schreiben widerstreitende Positionen darzustellen und diese zugleich für die eigene Problembearbeitung zu nutzen.

Ist diese „Streitförmigkeit“ typisch für die deutsche Wissenschaftskultur?

Nein, es gibt sie nicht nur in der deutschen Wissenschaft. Eine Besonderheit ist aber, dass sie in Deutschland schon in studentischen Texten, also zum Beispiel in Haus- oder Seminararbeiten, erwartet wird. Studierende haben die Aufgabe, eine Mini-Forschungsarbeit zu schreiben, darin wie etablierte Wissenschaftler aufzutreten und sich sprachlich entsprechend zu artikulieren. Genau das ist es, was wissenschaftliches Schreiben für viele Studierende so schwer macht.

Das Schreiben von Seminararbeiten ist eine Herausforderung

Bringen deutsche und ausländische Studierende unterschiedliche Voraussetzungen für diese Art des wissenschaftlichen Diskurses mit?

Die deutschen Studienanfänger haben vielleicht gewisse Startvorteile, weil schon in der Schule – zumindest mündlich – viel diskutiert wird, während in Schul- und Universitätstraditionen anderer Länder die kritische Auseinandersetzung mit Wissensbeständen nicht den gleichen Stellenwert hat. Dennoch ist das Schreiben einer Seminararbeit für alle Studienanfänger eine neue Herausforderung. Denn auch an deutschen Schulen sollen die Schüler in ihren Arbeiten vor allem Texte zusammenfassen, Inhaltsangaben schreiben oder literarische Werke analysieren, anstatt schreibend zu streiten. Deutsche Studienanfänger bringen – wie ihre ausländischen Kommilitonen – meist ein anderes Verständnis von Wissenschaft mit: Sie gehen in der Regel davon aus, dass es in der Wissenschaft um das Entdecken von Wahrheiten geht und nicht darum, zu überzeugen, indem man die eigenen Antworten auf eine Frage mit anderen vergleicht und mit guten Argumenten belegt.

Welchen sprachlichen Herausforderungen begegnen ausländische Studierende beim Verfassen wissenschaftlicher Arbeiten?

Die Kenntnis von Fachwörtern und die Tatsache, dass wissenschaftliche Texte längere und kompliziertere Sätze haben, bereitet den ausländischen Studierenden – anders als man vermuten könnte – nicht unbedingt größere Probleme. Es ist aber eine zusätzliche Herausforderung für ausländische Studierende, dass sie nicht über den muttersprachlichen Erfahrungsvorlauf verfügen. Ihnen fällt es daher schwer, typisch wissenschaftssprachliche Merkmale von deutschen Texten zu entdecken, und sie auch für sich zu nutzen. Ein gutes Beispiel sind Zitate: Ausländische Studierende tendieren immer wieder dazu, Aussagen einfach unmarkiert – also nicht als Zitate kenntlich gemacht – oder sehr schwach markiert zu übernehmen. Was Andere als Fakten darstellen, stellen sie ebenfalls als Fakten dar. Hier fehlt häufig der Bezug auf den Forschungsdiskurs, der über Formulierungen läuft wie „Autor A argumentiert, dass…, Autor B geht dagegen von der These aus, dass…“. Allerdings kommt dies auch bei deutschen Studierenden vor, die zwar Mittel der Redewiedergabe aus der Schule kennen, aber eben nicht ihre Funktion im wissenschaftlichen Schreiben.

Gemeinsame Reflexion ist gerade bei ausländischen Studierenden effektiv

Welche Möglichkeiten gibt es, ausländische Studierende in die deutsche Wissenschaftssprache einzuführen?

Lange wurden die Studierenden an den Hochschulen einfach nur angehalten, Texte zu lesen, die als Modelle für das eigene Schreiben dienen können. Doch gerade wenn in relativ kurzer Zeit Fortschritte gemacht werden sollen, ist es ebenso wichtig, die Studierenden gezielt darauf aufmerksam zu machen, welche Funktionen bestimmte sprachliche Mittel haben, und wie sie diese einsetzen können. Inzwischen gibt es vielerorts Schreibzentren, die spezielle Kurse für DaF-Lernende anbieten, oder individuelle Schreibberatungen, in denen die Studierenden ein Feedback zu ihren Texten erhalten. Entscheidend ist es aus unserer Sicht, den Übergang vom Lesen zum Schreiben zu unterstützen.

Womit kann das erreicht werden?

Wir haben dafür an der Universität Gießen das Schreibkontroversenlabor, kurz Skola, eingerichtet. Das ist eine webbasierte Lernumgebung, in der die Studierenden Texte beim Lesen mit Randbemerkungen versehen und sie dann im nächsten Schritt nach übergeordneten Gesichtspunkten neu strukturieren, um auf dieser Basis einen eigenen Text zu schreiben. Wir setzen dies in unseren Lehrveranstaltungen ein, um mit den Studierenden über diese verschiedenen Arbeitsschritte zu sprechen, die das Schreiben einer wissenschaftlichen Arbeit ausmachen. Die gemeinsame Reflexion ist gerade bei ausländischen Studierenden sehr effektiv im Hinblick auf den Lernprozess. Wenn sie auf typische sprachliche Mittel hingewiesen werden, die etwa zur Rahmung von Zitaten dienen, bauen sie diese auch in ihre Texte ein. Diese werden dadurch noch nicht perfekt, bekommen aber sofort einen wissenschaftlicheren Charakter. Die Diskussionen setzen bei den Studierenden also vielversprechende Aneignungsprozesse in Gang.
 

Dr. Martin Steinseifer Dr. Martin Steinseifer | © Martin Steinseifer Dr. Martin Steinseifer studierte Germanistik und Evangelische Theologie. Von August 2012 bis März 2015 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsprojekt Eristische Literalität an der Justus-Liebig-Universität Gießen, das er seither koordiniert. Gefördert von der Volkswagenstiftung, untersucht das Projekt unter der Leitung von Prof. Helmuth Feilke und Prof. Katrin Lehnen den Erwerb und die Möglichkeiten zur Förderung von Textkompetenzen in der Wissenschaftssprache Deutsch bei Studierenden unterschiedlicher sprachlicher und wissenschaftskultureller Herkunft.