Ideen und Visionen für ein künftiges Europa
VEREINIGTE STAATEN ODER REPUBLIK?

Vereinigte Staaten oder Republik? Debatte am 06.12.16 im Goethe-Institut Rom mit (v.l.n.r.) Adriana Cerretelli, Jacopo Zanchini und Ulrike Guérot
Vereinigte Staaten oder Republik? Debatte am 06.12.16 im Goethe-Institut Rom mit (v.l.n.r.) Adriana Cerretelli, Jacopo Zanchini und Ulrike Guérot | © Goethe-Institut Italien

Die Utopie einer europäischen Republik: Darüber diskutierten im Goethe-Institut bei der gut besuchten Veranstaltung der Reihe Auf dem grünen Sofa die deutsche Politologin und Publizistin Ulrike Guérot, Gründerin des Think Tanks European Democracy Lab, der sich Gedanken über die Zukunft der europäischen Demokratie macht, und die Journalistin Adriana Cerretelli von der Tageszeitung Il Sole 24 Ore. Das Gespräch moderierte Jacopo Zanchini von der Zeitschrift Internazionale.

Die Diskussion kreiste um Ulrike Guérots Vision einer europäischen Integration, wie sie sie in ihrem noch nicht ins Italienische übersetzten Buch Warum Europa eine Republik werden muss darstellt. Dabei wurden die derzeitige Krise der europäischen Idee mit der gleichzeitigen Krise der traditionellen Politik und der klassischen Parteien nicht verschwiegen, die fast überall auf dem Kontinent zum Vormarsch der Populisten führen.

Europa und seine multiplen Krisen

Jacopo Zanchini geht von der Aktualität aus, von den jüngsten Präsidentenwahlen in Österreich und vom italienischen Verfassungsreferendum. „Deuten die Ergebnisse auf eine Wiedergeburt hin oder sind sie nur weitere Bausteine einer scheinbar unendlichen europäischen Krise?“

Ulrike Guérot hält sich zurück: „Noch ist das nicht klar“, sagt sie. „In Österreich ist die Partei von Hofer, der die Präsidentenwahlen verloren hat, dennoch die stärkste Partei und bei den nächsten Parlamentswahlen könnte sie die Stimmen der unzufriedenen Gegner des Establishments auf sich vereinen. In Italien ist die Situation noch unsicherer, vielleicht solltet ihr mir zunächst erklären, ob der Ausgang des Referendums ein positives oder negatives Zeichen für Europa ist. Ich glaube, dass das Nein zur Reform in jedem Fall die Entwicklung Europas beeinflussen wird.“
Adriana Cerretelli bemüht sich um noch größere Klarheit. „Die Niederlage Hofers in Österreich ist sicher ein gutes Zeichen. Italien hat weniger für den Erhalt der alten Verfassung als gegen die amtierende Regierung gestimmt. Mir macht vor allem die sinkende Zustimmung für traditionelle Parteien Sorge, für allem bei den Sozialisten, und der Zulauf für Populisten und systemfeindliche Bewegungen von links bis rechts. Die Sozialisten verlieren, weil sie versucht haben, es ihren natürlichen Konkurrenten gleichzutun, den Christdemokraten. Dabei überließen sie ihre traditionellen Themen den Populisten. Man müsste in jedem Fall versuchen, das Europa der multiplen Krisen zu überwinden und das Dilemma zwischen Sparzwang und Wachstum, auf dem ein Großteil der Zustimmung für antieuropäische Parteien beruht.“

Union der Völker, Union der Regionen

„Wir sprechen heute von einem Europa der Staaten und bewegen und innerhalb nationaler Grenzen“, fährt Zanchini fort. „Wir sprechen über ein Europa, in dem in den vergangenen 15-20 Jahren die Parteien stärker und die europäischen Institutionen schwächer geworden sind.

Ulrike Guérot ist überzeugt, dass das ursprüngliche europäische Projekt im Grunde verraten wurde und wir die Nationalstaaten überwinden müssen, um die Utopie neu zu erschaffen, um eine europäische Republik zu gründen. Das ist eine wunderbare Idee, die heute aber weiter denn je in die Ferne gerückt scheint. Wie können wir sie dennoch konkretisieren?“ Ulrike Guérot ist sich bewusst, dass „die europäische Republik ihrer ursprünglichen Form der Römischen Verträge von 1956 entsprechen müsste, nach Jean Monet und Alcide De Gasperi, kein Staatenverbund, sondern eine Union der Völker. Zahlreiche Regionen und Akteure, die ihre Identität beibehalten und ein einziges Europa bilden, zum Nachteil der wenigen großen Nationalstaaten. In meinem Buch möchte ich zu dieser Idee zurückkehren, die überhaupt nicht neu ist. Auch Hannah Arendt sprach schon am Beginn der fünfziger Jahre, also vor den Römischen Verträgen von Souveränität, Integration und Freiheit des einzelnen, die in Gefahr geraten, wenn sie von den Staaten unrechtmäßig beansprucht werden“.

Guérot entwickelt ihre Thesen mit großer Leidenschaft, indem sie mit der freien linken Hand große Kreise in die Luft malt, während sie in der anderen das Mikrofon hält. „Die Union der Völker, wie sie im Vertrag von Maastricht steht, ist im Grunde eine Lüge. Die Europäische Union ist nämlich weiterhin eine Union der Staaten. Die Bürger dürfen nicht nach Staaten getrennt werden, sie müssen gleich und souverän sein, dafür braucht es ein transnationales europäisches Parlament und Instrumente zur Durchsetzung der Gewaltenteilung. Das sind die Bedingungen für die Entstehung eines politischen Projekts, für eine Republik im Wortsinn, nach Ciceros Modell. Eine Republik, in der es keine italienischen, deutschen oder finnischen Bürger mehr gäbe, sondern europäische Bürger, in der jenseits der Nationen der Gleichheitsgrundsatz gilt und die Bürger übereinstimmen, dass sie vor dem Gesetz gleich sind. All das kann natürlich nicht sofort erreicht werden, aber wenn wir wirklich eine Republik wollen, dürfen wir uns nicht beklagen, dass die Voraussetzungen fehlen, sondern müssen diese schaffen. Das ist wie beim Brückenbau, zunächst muss man die tragenden Pfeiler errichten.“

Ist die europäische Republik eine Utopie?

Adriana Cerretelli ist skeptisch, sie sieht Vor- und Nachteile, stellt sich und den anderen viele Fragen. Wie könnte eine europäische Republik, die auf den Regionen basiert, mit Giganten wie den USA, China oder Brasilien verhandeln? Wie könnte sie von der immer weniger auf Vermittler angewiesenen Information begünstigt werden, die heute im Internet kursiert? Wie könnten die Regionen in einem Europa der Bürger den Staaten auf demokratische Weise ohne Erschütterungen und Traumata die Macht nehmen? „Die Staaten sind egoistisch. Sind wir sicher, dass die Regionen und die direkte Demokratie das nicht auch wären? Die Europäische Union hat den europäischen Bürger geschaffen, aber gibt es heute beispielsweise eine piemontesische oder kalabresische Identität? Haben die Bürger von München und Dresden das gleiche Verständnis von den Dingen? Sicher gibt es gemeinsame Probleme, aber gleichzeitig bestehen auch unterschiedliche Sensibilitäten und lokale Interessen. Ich weiß nicht, wie man mehr als 500 Millionen Bürger verschmelzen könnte. Derzeit haben wir 28 nationale Mitgliederstaaten und mehr als hundert Regionen. Wie könnte man zum Beispiel die Handelspolitik in Einklang bringen, wenn bereits heute eine Region mit 3,5 Millionen Einwohnern wie das belgische Wallonien fast ein wichtiges Abkommen mit Kanada zu Fall gebracht hätte?“

Zanchini zeigt sich optimistischer. „Natürlich beschreibt Ulrike Guérot eine Utopie. Aber wozu sind Utopien gut, wenn sie uns nicht Ziele vorgeben helfen? Die möglicherweise unerreichbar sind, aber zur Weiterentwicklung beitragen. Ich würde gern die Grundlagen und politischen Ziele der von Ulrike Guérot entwickelten Utopie verstehen, weil ich denke, dass sie entsteht, um demokratische Mängel zu beheben und versucht, nationale Personalismen zu überwinden.“

Eine friedliche Implosion

„Das zentrale Argument meines Buches lautet, dass das System implodieren kann, aber auf friedliche Weise“, erklärt Ulrike Guérot abschließend. „Unabhängig davon, was in Europa geschehen kann, können wir nicht vor diesem Kontinent fliehen, und egal, was passiert, müssen wir ihn in jedem Fall selbst neu organisieren. Wenn der Regionalismus sich ausbreitet, haben die Nationalstaaten keinen Sinn mehr, dann reicht Europa. Entscheidend ist der Aufbau einer europäischen Republik, nicht eines europäischen Zentralstaates. Dann wäre es nicht mehr wichtig, wem das Elsass gehört, weil die Nation eine Fiktion ist, während die Heimat realistisch ist. Ich fordere euch nicht auf, im Rahmen eines europäischen Zentralstaats eure Identität preiszugeben, sondern biete euch stattdessen meine Heimat, meine Küche, meinen Dialekt, meine lokale Identität. aber im Gegenzug möchte ich eine normative Identität und Gleichheit vor dem Gesetz. Gleichheit in der Vielfalt, denn die europäische Kultur basiert nicht auf der Identität sondern gerade auf unserer Verschiedenheit. Europa würde ein Vorreiter des Völkerbunds werden, den Kant in seinem Werk Zum ewigen Frieden zu beschreiben versucht.“