50 Jahre 1968
Kein Schnellrezept zur Rettung der Linken

Axel Honneth im Goethe-Institut Rom
Axel Honneth im Goethe-Institut Rom am 7.03.2018 | © Goethe-Institut Italien / Christine Pawlata

50 Jahre nachdem die Studenten in West-Berlin auf die Barrikaden gingen, blickt der Sozialphilosoph Axel Honneth im Gespräch mit dem Goethe-Magazin zurück auf die revolutionäre Bewegung. Gleichzeitig bietet er eine wenig schmeichelhafte Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Linken.

Honneth, der heute das renommierte Institut für Sozialforschung in Frankfurt leitet und an der New Yorker Columbia Universität lehrt und forscht, machte im Frühjahr 1968 gerade sein Abitur in Essen.
 
Anfangs, erzählt er, habe er die Studentenbewegung ein bisschen arrogant gefunden. „Ich erinnere mich an einen Abend im privaten Kreis, da kam eine Abordnung des Berliner Sozialistischen Deutschen Studentenbunds ins Ruhrgebiet und wollte uns die Doktrinen der Bewegung beibringen. Ich saß mit meiner damaligen Freundin und tuschelte ein wenig. Da herrschte uns dieser SDS-Vertreter an und sagte: ‚Privates kennen wir nicht mehr. ‘ Ich fand das unerträglich.“

Reform statt Revolution

Die Auswirkungen der 68er sieht der Philosoph eher im soziokulturellen als im politischen Bereich.
„Ich finde das Interessante an der 68er-Bewegung, dass die eigentlichen Folgen nicht die intendierten waren. Die Bewegung hatte sich die Revolution und die Befreiung des Proletariats versprochen“, so Honneth. „Was man erreicht hat, war die Reform, die man ja gar nicht wollte.“
 
Die größte Errungenschaft der 68er ortet er im privaten Bereich. „Das drastischste Beispiel ist für mich die Transformation der Familie. Wir haben nur noch an den Rändern tatsächlich patriarchalische Familienstrukturen. Im Kern haben wir liberale Familien, in denen die Kinder im hohen Maße Mitbestimmungsrecht genießen. Wir haben ganz andere Erziehungsmethoden. Ich bin – und das nehme ich meinem Vater gar nicht übel – noch geschlagen worden,“ erzählt der 1949 geborene Honneth.
 
Zu der Verbrüderung zwischen den Studenten und den Arbeitern war es nicht gekommen. „Die Arbeiterklasse war eher sozialdemokratisch, gewerkschaftlich orientiert, sicherlich in den Mentalitäten in gewisser Weise konservativ. Ich glaube nicht, dass man die Sprache gefunden hatte, in der deren Nöte und Besorgnisse artikuliert werden konnten.“

Die Idee des Sozialismus

Entgegen Kritikern, die das Scheitern des Sozialismus als Fakt ansehen, bricht Honneth in seinem 2015 erschienenem Buch 'Die Idee des Sozialismus: Versuch einer Aktualisierung' eine Lanze für die auf Solidarität basierende Theorie.
 
„Wenn man mich in den letzten 40 Jahren fragte: ‚Auf welcher Seite stehst du politisch?‘ habe ich immer gesagt: ‚Ich fühle mich als Sozialist.'“
 
In dem mit dem Bruno-Kreisky-Preis ausgezeichnetem Werk verteidigt Honneth die Grundideen des Sozialismus. Diese wurzeln im Konzept der sozialen Freiheit. „Es geht um das Hervorkehren des uns Vereinigenden und des voneinander abhängig Seins, gegenüber dem Atomismus oder dem Individualismus der liberalen Tradition.“

Sozialdemokratie und Sozialismus in Scherben

Weniger optimistisch blickt Axel Honneth auf den aktuellen „Scherbenhaufen“ der Linken in Westeuropa. „In der Zeit, in der ich auf mich als politisches Wesen zurückblicken kann, habe ich noch nie so viel Anlass zu Pessimismus gehabt wie im Augenblick. Ich denke immer, es ist Aufgabe des Intellektuellen keinen Pessimismus zuzulassen, und sich dazu zu verpflichten, auch die Chancen und die Spielräume zu sehen. Aber im Augenblick kommt schon vieles sehr dick zusammen.“
 
Den Grund für die Krise der Linken sieht er, wie schon bei der Studentenbewegung der 68er, darin, dass man nicht mehr die Sprache derer spreche, in deren Namen man ein politisches Programm zu vertreten glaube. „Man hat im Grunde genommen dazu beigetragen, ungewollt vielleicht, dass große Teile der Bevölkerung auf der Ebene der politischen Öffentlichkeit zunehmend unsichtbar wurden.“
 
Ein Schnellrezept hat Honneth nicht für die Rettung der linksorientierten Parteien.
 
„Im Augenblick gibt es natürlich nur Grund zur Bescheidenheit. Man muss sich klar machen, dass hehre sozialistische Ideen wenig helfen.“ An erster Stelle müsse die Diagnose treten, was zum Zerfall der westeuropäischen Sozialdemokratie und des Sozialismus in den letzten 20 Jahren geführt hat. „Und dann muss man sich fragen, wie man wieder eine Sprache, ein Sensorium entwickelt, wie man die Nöte und Sorgen, die vorherrschen, vielleicht so reartikulieren kann, dass sie nicht vom Rechtspopulismus aufgesogen werden können. Was im Augenblick der Fall ist.“
Vor allem eines solle man nicht, warnt Honneth: „Nicht den alten linken Fehler machen zu sagen: ‚Wir wissen es eh besser‘.“