Migration in Europa als strukturelles Phänomen
Zwanzig Jahre Migrationsgeschichten im Vergleich

Sul Divano Verde
© Goethe-Institut Italien

Sie sind beide um die dreißig Jahre alt, Martin Kordíc, der deutsche Schriftsteller mit bosnischem Vater, und der in Albanien geborene Journalist Arbër Agalliu, der seit seiner Kindheit in Italien lebt. Auf dem grünen Sofa, der vom Goethe-Institut gemeinsam mit der Zeitschrift Internazionale organisierten Reihe, die die Entwicklungen der vergangenen zwanzig Jahre beim Thema Migration in Italien und Deutschland auf den Punkt bringt, diskutieren sie miteinander. Dabei geht es vor allem um innereuropäische Migration. Das Treffen moderiert die Journalistin Annalisa Camilli, die für Internazionale Wege von Migranten aufzeichnet und ihre Geschichten erzählt.
 

Begriffe wie „Notstand“ und „Invasion“ überwinden

Annalisa Camilli führt ohne Umschweife in das Thema ein. „Mit vielen Problemen, die wir betrachten, als träten sie zum ersten Mal auf, haben wir uns schon konfrontiert, sind dabei aber zu keinem Ergebnis gekommen. Einwanderung ist für die Europäer nichts Neues, sondern seit mehr als zwanzig Jahren ein strukturelles Phänomen. So haben wir auch persönliche Schicksale wie die von Martin und Arbër, die völlig andere Geschichten erzählen als solche über Notstand oder Invasion, die man normalerweise mit Migranten in Verbindung  bringt, und die in gewisser Weise das Ergebnis dieses Phänomens sind.“

In seinem Roman Wie ich mir das Glück vorstelle erzählt Martin Kordíc seine Sicht über den Jugoslawien-Konflikt, aber er gehört nicht zu denen, die vor dem Krieg geflohen sind. „Ich bin in Deutschland geboren und meine Mutter ist eine Deutsche. Mein Vater war in den 70er Jahren als Gastarbeiter gekommen. Für ihn war es einfacher als für viele andere, denn er kam nicht allein nach Deutschland, da waren noch eine Schwester und andere Verwandte. Es ist richtig, dass bei Kriegsausbruch sehr viele kamen, aber viele sind danach auch wieder zurückgekehrt.“

Arbër Agalliu hingegen kam nach Italien, als er zehn Jahre alt war. Er hat seit Kurzem die italienische Staatsangehörigkeit und engagiert sich stark für das Recht auf Einbürgerung. Mit der Sendung Toscana senza frontiere versucht er im Sender Toscana TV positive Geschichten über Einwanderung und Immigration zu erzählen. „Wir gehören zur zweiten Einwanderungswelle von Albanern in Italien, die zwischen 1996 und 1998 immigrierten. So haben wir in unserer Heimat sämtliche Folgen des Zusammenbruchs des Regimes erlebt. Meine Eltern haben alles aufgegeben, was sie hatten, und in Italien von Null an neu angefangen, um meiner Schwester und mir eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Das war nicht leicht, vor allem, wenn du dir eine Arbeit aufgebaut hattest. Wenn ich heute daran zurückdenke, wirkt das eher komisch, aber die Geschichte meiner Eltern hat mich trotzdem geprägt.“
 

Sprache als erste Form der Interaktion

Eine der ersten Schwierigkeiten für Migranten ist die Sprache. „Zu Hause sprach ich mit meiner Mutter und meinem Bruder natürlich Deutsch“, sagt Martin. „Und wenn mein Vater immer am Wochenende vom Bau nach Hause kam, bat ich ihn 'normal' zu sprechen. Meine Muttersprache ist in jedem Fall Deutsch. Als ich angefangen habe zu schreiben, mich mit der Welt auseinanderzusetzen, fuhr ich häufig nach Bosnien, um meine serbo-kroatischen Sprachkenntnisse zu verbessern. Meinen Roman habe ich auf Deutsch geschrieben, aber ich habe dennoch Metaphern im Kopf, die für die andere Sprache typisch sind und ihn sicher bereichert haben.“ Auch für Arbër ist die Sprache kein Problem gewesen. „Natürlich macht allein mein Name neugierig. Wenn sie mich dann ohne komischen Akzent Italienisch reden hören, machen sie mir Komplimente, stellen Fragen nach dem Namen, was er bedeutet. Dann muss ich erzählen, dass darin der ursprüngliche Namen Albaniens enthalten ist. So stellt sich eine erste Form der Interaktion mit anderen Menschen her, die sich dadurch öffnen. Ich habe jedenfalls hier studiert und ich arbeite hier. Wenn überhaupt, dann sind meine Probleme eher die albanische Sprache und die albanische Geschichte.“

Stereotypen und Ausländerfeindlichkeit

Von der Ankunft der Einwanderer in Deutschland und Italien und ihrer Sprache gelangt man rasch zu Stereotypen über Immigranten, die im Wahlkampf gern als Schreckgespenst an die Wand gemalt werden, bis hin zur Ausländerfeindlichkeit. Annalisa Camilli wirft Argumente ein, die zum Nachdenken über die Wandlung der Einwanderungsprozesse vom Notstand hin zum strukturellen Phänomen anregen.

„Natürlich hat es immer auch hässliche Begegnungen gegeben“, sagt Martin Kordíc. „Davor hat mich mein deutscher Name Martin in gewisser Weise ebenso geschützt wie die Tatsache, dass ich perfekt Deutsch sprach. Stereotypen sind sehr präsent und tief verwurzelt. Ich habe sie jedes Mal wie einen Messerstich ins Herz erlebt. Ich bin in Deutschland geboren und aufgewachsen, meine Mutter ist eine Deutsche, ich schreibe auf Deutsch, ich bin ein deutscher Schriftsteller, aber wenn ich sage, ich fahre nach Bosnien, antworten meine Freunde: Ach so, du fährst nach Hause. Das ist eine Art sprachlicher Ausgrenzung. Ich wiederhole, ich bin deutsch und ich fühle mich als Deutscher. Wenn Du eine Wohnung oder eine Arbeit suchst, musst du aber immer mit Stereotypen kämpfen. Noch viel schlimmer ist es, wenn du eine andere Hautfarbe hast, oder einen anders klingenden Namen. Die Vorstellung, dass Deutschland das Ziel für Einwanderer und Flüchtlinge ist, hat mit Ideen von Wohlstand und sozialer Sicherheit zu tun, die damit verbunden sind. Auch wenn die deutsche Politik das Phänomen der Zuwanderung über Jahrzehnte verleugnet hat, indem sie Ausländer als Gastarbeiter bezeichnete. Viele dieser so genannten Gastarbeiter blieben aber in Deutschland. Die meisten Deutschen verstehen ihr Land aber weiterhin nicht als Ort der Zuwanderung.“
 

Staatsangehörigkeit und Herausforderung der Integration

Arbër Agalliu geht das Thema mit unterschiedlichen Schattierungen an. „Ob man sich mehr oder weniger als Italiener identifiziert, hat nichts mit Etiketten und Stereotypen zu tun, sondern immer noch mit Sprache und Worten, wenn wir etwa von Einwanderern der zweiten Generation reden. Was heißt das eigentlich, der zweiten Generation anzugehören? So verpassen wir jungen Leuten, die in Italien geboren sind, ein Etikett, wir nennen sie Einwanderer, aber den einzigen Weg, den sie zurückgelegt haben, ist der vom Krankenhaus, in dem sie geboren wurden, nach Hause. Ich möchte in diesem Zusammenhang ausdrücklich darauf hinweisen, wie schwer es ist, die Staatsangehörigkeit zu erhalten. Diese Schwierigkeiten gehen auf ein Gesetz zurück, das im Sinne der Menschen, die hier geboren sind, reformiert gehört. Das Gesetz ist überholt, es stammt aus einer Zeit, als die Zahl der Bürger ohne italienische Staatsangehörigkeit weit unter der heutigen lag. Ich benutze bewusst den Ausdruck Bürger ohne italienische Staatsangehörigkeit, weil das etwas völlig anderes ist als Ausländer. Das sind meines Erachtens Menschen, mit denen wir nichts gemeinsam haben, vor allem was Sprache, Kultur und Lebensweise anbelangt. Ich trug bis 2016 das Etikett des Ausländers, und dennoch war ich derselbe Arbër von heute, ich sprach genauso perfekt Italienisch wie jetzt, aß fast jeden Tag Pasta wie jetzt auch. Wir sollten uns um die richtige Ausdrucksweise bemühen. So könnte der Begriff Bürger ohne italienische Staatsangehörigkeit zur Frage führen: warum eigentlich? Nur wegen eines alten überholten Gesetzes."
 
Ein überholtes Gesetz und tief verwurzelte Gefühle, die es zu überwinden gilt. Der Wunsch, in dem Land zu bleiben, in dem man ein ganzes Leben mit Arbeit verbracht hat und der Wunsch nach Staatsangehörigkeit. Martin und Arbër hegen vor allem den Wunsch nach Integration. Letzterer betont das, als er der Diskussion zum Schluss einen Sinn gibt: „Die Albaner. Warum liest man in den Zeitungen nicht mehr wie früher über sie? Warum sind sie aus den Spalten des Vermischten verschwunden? Schlicht und einfach, weil sie sich integriert haben. Der nächste Schritt muss darin bestehen, dass sie nicht mehr das Etikett verpasst bekommen, Ausländer zu sein. Wir dürfen nicht dem extrem negativen Beispiel Frankreichs folgen, wo man von Einwanderern der vierten und fünften Generation spricht. Das hat keinen Sinn. Man muss sich integrieren, auch wenn ich dem Begriff der Integration den der Interaktion vorziehe. Man muss miteinander reden, sich kennen lernen, darin besteht die Herausforderung.“