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Ammar Al-Beiks nächster Langfilm
„La Dolce Tokyo“: Wenn Zufall die schönste Kunst ist

La Dolce Tokyo Ammar Al-Beik 2019
© Ammar Al-Beik

Ammar Al-Beik hat als Residenzkünstler in Tokyo umfangreiches Filmmaterial produziert. Im Mittelpunkt: Ein 77-jähriges Blumenmädchen auf Tokyos Prachtstraße Ginza - und die Frage, was Lebenskunst heute zwischen Selfies und Luxushandtaschen ausmacht.

Ein Frühlingsabend auf der Ginza in Tokyo: Zwischen Juwelierläden, polierten Porsches aus Retro-Jahrgängen und Geschäftsmännern in maßgeschneiderten Anzügen trifft Ammar al-Beik auf Yoshie-san. Al-Beik ist Residenzkünstler des Projekts „Goethe-Institut Damaskus im Exil in Tokyo“, immer die Kamera griffbereit, Yoshie-san verkauft Blumensträuße auf der Prachtstraße, seit mehr als 60 Jahren.

Er filmt, wie sie in Schürze und schlappenden Thermostiefeln vom Blumenwagen aus ihre Routen abmarschiert. Ihre resolute Art, den Passanten die Sträuße entgegenzudrücken, entspricht so gar nicht der Vorstellung von zurückhaltenden Japanern – und auch nicht die ausgelassene Heiterkeit ihrer Kunden, die oft noch zum Gespräch stehenbleiben.

Trailer zu "La Dolce Tokyo"

© Ammar Al-Beik
Ammar al-Beik begleitet Yoshie-san 90 Minuten mit seiner Kamera, von ihrer ersten Begegnung bis zum Abschied. Bei einem Screening gegen Ende seiner Residenz präsentiert er im Goethe-Institut Tokyo Ausschnitte, die zum Langfilm „La Dolce Tokyo“ (auf Japanisch: „Tokyo no amai seikatsu“, 東京の甘い生活) werden sollen. Die Gäste – viele verfolgen Al-Beiks Arbeit seit Langem – sind überzeugt: Auch in diesem Material legt der syrische Künstler durch die dichte Betrachtung des Persönlichen mit großer Wucht eine übergreifende Menschlichkeit offen.

Ein Gast des Screenings fragt, woher Al-Beik wusste, dass er ausgerechnet die Blumenverkäuferin Yoshie-san filmen will? „Früher habe ich es als Versagen empfunden, wenn beim Filmen nichts Besonderes passiert. Aber wenn man oft genug gefilmt hat, gewinnt man Vertrauen, dass die Situation einem Geschenke machen wird.“

Während Al-Beik sie filmt, verschwindet Yoshie-san. Ein Kunde kauft sehr viele Blumen und bittet sie damit in eine private Bar, umgeben von mehreren Damen in lavendelfarbenen Seiden-Kimonos. Al-Beik wartet vor dem Haus, macht sich Musik an – ein syrisches Lied über Blumen, auch so ein Beispiel dafür, wie das Arrangement der Zufälle bei Al-Beik zu Tiefe wird – und weiß nicht, ob Yoshie-san wiederkommen wird. „Der Mann, der sie mitgenommen hat, hat gar nicht mit mir oder der Kamera interagiert, nur mit ihr. Aber er hat die Kamera schon bemerkt und intuitiv eine bestimmte Rolle eingenommen, die Yoshie-san und meine Aufnahmen mitgetragen hat.“

Poster La Dolce Tokyo © Goethe-Institut Tokyo, Ammar Al-Beik Kann man Authentizität filmen, wenn uns die ständige Anwesenheit von Kameras im Alltag in Selbstdarstellung verfallen lässt? Welche Bedeutung hat Authentizität auf der Ginza, wo man auch einfach alles kaufen kann, was sich in Anerkennung umtauschen lässt? „Yoshie-san hat ihre eigene Geschwindigkeit“, sagt Al-Beik. „Alle anderen müssen gleich wieder irgendwo anders sein. Sie aber hat ein sehr starkes Bewusstsein dafür, wer sie ist und wie sie sich an diesem Ort bewegt, wortwörtlich auf ihren ganz eigenen Pfaden und mit Grenzen, die sie gesetzt hat.“

Ist es das, was man im Japanischen mit „My Pace“ meint: Dinge im eigenen Tempo tun, ohne sich von außen beeindrucken zu lassen? Al-Beik ergänzt: „Eine solche Lebenskunst ist ein sehr altes Geheimnis. Es macht viele Menschen, die noch nicht so leben, neugierig oder sogar ängstlich, weil es gleichzeitig verletzlich und geschützt ist, durchlässig und selbstbestimmt. Für mich gibt es in letzter Zeit nichts Wichtigeres oder Interessanteres, als eine solche Form von Selbst-Bewusstsein zu entwickeln.“

Am Ende, bevor er sich mit einem bärtigen Handkuss verabschiedet, filmt Al-Beik Yoshie-san noch einmal ganz nahe. Sie sieht direkt in die Kamera und lächelt, ohne zurückzuweichen, im Kragen eine abgebrochene Rose, die Al-Beik ihr angesteckt hat. 

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