Filmreihe Humboldt "Übersee" Die Besteigung des Chimborazo

Die Besteigung des Chimborazo ©Goethe-Institut

Mi, 22.05.2019

19:30 Uhr

Goethe-Institut Peru

Regie: Rainer Simon, Farbe, 96 Min., 1989

Mit 32 Jahren befindet sich Alexander von Humboldt auf der anderen Seite der Erdkugel in Südamerika und bricht mit seinen Gefährten, dem französischen Botaniker und Arzt Aimé Bonpland, dem kreolischen Adligen Carlos Montúfar und einer Karawane von einer Hazienda im Andengebiet auf, um den Chimborazo zu besteigen, den höchsten Berg der Region, den bisher noch nie ein Mensch bezwang.

Auf dem beschwerlichen, strapaziösen Weg versucht Humboldt alles, was er wahrnimmt, genau zu erfassen. Er untersucht, mißt und vergleicht Pflanzen und Tiere, Erde, Wasser und Luft. Vor allem aber sind da die Indianer, durch deren Dörfer am Fuße des Chimborazo die Karawane zieht, von denen sie empfangen werden, in deren Hütten sie übernachten. Humboldt nähert sich ihrer unbekannten Lebensweise und Kultur vorurteilsfrei, mit Neugier, Interesse und Respekt.

Auf diesem Weg zum Chimborazo erleben wir in kurzen filmischen Rückgriffen, mit welcher verzweifelten Leidenschaft der junge Alexander von Humboldt seine Idee von der Erforschung der Welt, von der Befreiung aus preußischer Enge verfolgte, wie erfinderisch er die Realisierung vorbereitete und wie kühn er sie schließlich durchgesetzt hat, wie er zu dem wurde, der, getreu den Gedanken der Französischen Revolution von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit die unterprivilegierte, von allen verachtete Welt der Indianer als gleichberechtigte, menschliche Kultur und Lebensweise annahm.

Alexander von Humboldt (1769-1859), Sohn eines königlich-preußischen Kammerherrn, war einer der großen europäischen Gelehrten seiner Zeit, Naturforscher und Reiseschriftsteller zudem und gilt mit seinen wissenschaftlichen Untersuchungen als Begründer der Tier- und Pflanzengeographie. Er hatte Kontakt mit Goethe und Schiller und unternahm ausgedehnte Forschungsreisen, die ihn nach Südamerika (1799-1804) und ins Ural- und Altai-Gebiet (1829) führten. Begeistert hatte der junge Gelehrte die französische Revolution begrüßt und sich später nachhaltig für die Abschaffung der Sklaverei in den USA eingesetzt. Der südamerikanische Freiheitsheld Simón Bolívar sah in ihm den "wissenschaftlichen Entdecker" Amerikas und nannte ihn einen "zweiten Columbus".

Alexander von Humboldts historische Besteigung des Chimborazo, der damals als höchster Punkt der Erde galt, ist Ausgangs- und dramatischer Höhepunkt dieses Films, der sich auf einer Ebene durchaus an die geschichtlichen Fakten hält, bis hin zu Humboldts gemeinsam mit Johann Georg Adam Forster unternommenen Fahrten nach Frankreich und England. Forster, ein Vertreter der Aufklärung, war mit seinem Werk "Reise um die Welt" (1877) in ganz Europa bekannt geworden.

Regisseur Rainer Simon und sein Co-Autor Paul Kanut Schäfer verflechten die Expedition auf den Chimborazo mit zahlreichen Rückblenden, die von Stationen aus Alexander von Humboldts Leben berichten; mitunter wirkt diese Dramaturgie etwas verwirrend, weil sie die verschiedenen zeitlichen und räumlichen Ebenen der Erzählung zu einer einzigen, alles umfassenden Gegenwart zu fügen versucht. Doch gerade die daraus entstehende Spannung zeigt, daß der Film, bei aller Liebe zu historischen Details, auch noch in eine ganz andere Richtung zielt und als "Text in der Sklavensprache" im Sinne Bertolt Brechts interpretiert werden kann, - eine Sprache voller Doppeldeutigkeiten und Anspielungen, die von den Beherrschten, aber nicht von den Herrschern verstanden wird.

DIE BESTEIGUNG DES CHIMBORAZO entstand in den letzten Jahren der DDR. Vor diesem Hintergrund bekommt die Sehnsucht des jungen Alexander von Humboldt nach fernen Ländern eine enorm aktuelle politische Dimension, die zunächst mit den empfindlichen Beschränkungen der Reisefreiheit in der DDR zu tun hat. In diesem Zusammenhang muß es das Publikum einst geradezu als Provokation verstanden haben, wenn der junge Alexander von Humboldt über das Verbot für Studenten klagt, ausländische Universitäten zu besuchen. Bei einer Demonstration eines Montgolfiere-Modells trägt der angehende Gelehrte den Ballon aus dem Haus, entläßt ihn in den freien Himmel und blickt ihm sehnsüchtig hinterher. Dieses Motiv wiederholt sich, wenn Alexander am spanischen Hof um die Erlaubnis bitten muß, Lateinamerika zu erforschen: "Ich sehe gar nicht ein", erklärt er vorher, "warum ich einen König fragen muß, wohin ich reisen darf."
Die aktuelle politische Kritik beschränkt sich indes nicht auf die Reisefreiheit. Es fehle den Preußen an "aufgeklärten Geistern", klagt Humboldt, und später formuliert er, der den Umwälzungen in Frankreich so positiv gegenüberstand, seine Zweifel an deren Erfolg: "Was ist aus dieser französischen Revolution geworden?" Dabei steht sein "linker" Idealismus nie in Frage. In Ecuador versucht er unter Umgehung des Spanischen - der Sprache der Eroberer - Ketchua zu lernen und den Indios einige deutsche Wörter beizubringen; er greift ein, wenn ein Indio gepeitscht wird und spricht von der Bedeutung des Wissens für die einheimische Bevölkerung. Seine Unruhe wird nicht zuletzt auch von der Kamera vermittelt, die gegen Ende eine Einstellung, die manchen als Stilbruch erscheinen mag, aus dem fliegenden Helikopter aufnimmt; diese "unnatürliche" Perspektive verweist auf die aktuelle, moderne Dimension des Films, dessen Held mehrfach die staatliche Bevormundung beklagt und die Frage stellt: "Warum können wir nicht selbst die Schöpfer unseres Glückes sein?" So erzählt diese historische Geschichte auch von der Stimmung in den letzten Jahren der DDR.

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