Dagmar Leupold
Pilgern: Nabokov, Achmatova, Brodsky

Pilgern ist dem Fußgänger vorbehalten. Meine Pilgertouren unternehme ich ohne Begleitung; sie haben, im Unterschied zum ebenso schönen ziellosen Streunen ein festes Ziel. Ich habe auf dem Weg zu den ehemaligen Wohnstätten der drei Autoren, die heute Museen sind, das Gefühl wie Besuch erwartet zu werden. Lektüren stiften eben Freundschaften.

Das Palais, in dem die Familie Nabokov am Anfang des 20. Jahrhunderts wohnte, in der Bolschaja Morskaja ulica, ist prachtvoll, der Treppenaufgang breit und einladend, in den Zwischengeschossen große Fenster mit farbenprächtiger ornamentaler Glasmalerei, sakrales Licht. Aber auch die Baufälligkeit ist nicht zu übersehen, große Risse im Putz, die oberen Stockwerke sind nicht zugänglich. Unten sind in den Ausstellungsräumen die originalen holzgetäfelten Kastendecken zu bestaunen, ein paar verstreute Möbelstücke, in den Vitrinen Fotos, Bücher und die Schmetterlingsjagdausrüstung des Schriftstellers. Petersburg hat so unendlich viele Schätze, um sie alle instand zu halten, bräuchte es ebenso unendlich vieler Initiativen, Spender, Sponsoren, Koordinatoren, den politischen Willen. Ich weiß nicht, ob er fehlt – hier, in Russland kann ich nur raten und schauen.

Ein Film läuft, eine der Schwestern Nabokovs, sehr betagt, gibt lebhaft Auskunft, erklärt Fotos und Verhältnisse: Das verstehe ich, obwohl ich kein Russisch spreche; so bin ich gezwungen, aus ihrer Gestik und Mimik und einem gelegentlich verstandenen Wort zu erschließen, was sie sagt. Eine gute Erfahrung. Die gezeigten Gegenstände und die Räume werden meist mit einem Zitat aus Nabokovs wunderbarer Autobiographie „Speak, Memory!“ erläutert: Auf einen Schlag wird sinnfällig und geradezu sichtbar, wie der Junge Vladimir, seine Geschwister, Gouvernanten, Sprachlehrerinnen und die Eltern das große Haus mit Leben erfüllten. Und welche Welt unterging. Ich danke der am Eingang sitzenden alten Dame, die strickend und lesend (was wohl? Pnin? Die Bibel? Eine Liebesschmonzette? Alles ist ihr zuzutrauen) die Eintrittskarten verkauft überschwänglich – wie für ein Geschenk. Und wandere weiter.

Anna Achmatova hat viele Jahre in einem Seitenflügel, dem sog. Fontanni dom, des Scheremetev-Palastes an der Fontanka gewohnt, die man allerdings von ihren Räumen aus nicht sieht. Dafür blickt man auf den schönen Park, der hinter dem Palais liegt. Die Wohnung gehörte dem Kunsthistoriker Punin, Achmatovas Gefährten, auch seine Frau und die Tochter wohnten dort. Nach der Revolution wurde die Wohnung wie so viele andere „verdichtet“: die Bewohnerzahl explodierte, jeder Quadratzentimeter war belegt. Von dieser Enge spürt man noch viel, die aufgespannten Wäscheleinen über dem Herd, das Bettlager, zusammen mit einem kleinen Buchregal von Achmatovas Sohn im Flur. Ich gehe mit dem Audioguide am Ohr, lausche den Gedichten, die zitiert werden und verfolge, von Raum zu Raum, die Tragik der vielen Verluste, Verhaftungen, Spitzeleien und Verrate. Das Manuskript des „Poem ohne Held“ liegt im letzten Zimmerchen, das Achmatova nach ihrer Rückkehr von der Evakuierung (und Trennung von Punin) bis 1952 bewohnte, auf einem winzigen Schreibtischchen. Ein paar Blatt Papier, mürbe, verblasste Schrift. Und so präsent.

Für Josif Brodsky gibt es im Erdgeschoss ein Gedenkzimmer. Er hat hier nie gelebt, war auch nie in dem Palais, aber die Bedeutung der Achmatova für sein eigenes Werk, von ihm selbst immer wieder hervorgehoben, rechtfertigt diese posthume Untervermietung. Im Fenster das Foto der Wohnung, in der die Brodskys wohnten, im berühmten Murusi-Haus am Liteiny prospekt, in dem sich auch die „Werkstatt der Dichter“ befand, von dem Dichter Gumiljow, Achmatovas erstem Mann, gegründet. Brodsky musste die Sowjetunion 1972, nach Jahren der Verbannung wegen „parasitärer Lebensweise“, verlassen. Der Begriff Wohnung für die Adresse Liteiny Prospekt ist eigentlich falsch: es ist eher ein Verschlag, der ihm als halbes Zimmer zur Verfügung stand (im wunderbaren Text „A Room and a half“ nachzulesen). Ich habe Brodsky 1985 in New York kennengelernt, Susan Sontags Sohn, David Rieff, hatte die Begegnung vermittelt. Brodsky hielt einen Vortrag in der Public Library und beeindruckte mich durch seinen Ernst und seine Unbestechlichkeit. Als ich später irgendwo las, dass er als junger Mann ein großformatiges Porträt eines Mitglieds der Parteikomitees, das an seinem Haus befestigt worden war mit den Worten: Wer ist denn das? Sieht aus wie William Blake! kommentierte, wunderte mich das überhaupt nicht.

Im Film sieht man Brodsky durch Venedig schlendern, dann steht er still und rezitiert ein Gedicht: in dem singenden, ziemlich pathetischen Stil, den auch italienische Rezitatoren noch immer haben. Das ist, neben den Kanälen, die Venedig und St. Petersburg verbinden, die zweite Gemeinsamkeit. Das kleine Gedenkzimmer ist rappelvoll, junge Leute, die interessiert den Ausführungen der Expertin lauschen. Brodsky lebt. In diesem Jahr jährt sich der Todestag zum zwanzigsten Mal.

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