Zeit für Brecht!

Vortragsreihe | brecht 70

  • Cankarjev dom, Ljubljana

  • Preis kostenlose Tickets

Mladen Dolar - Brecht Foto: Kristina Bursać © Cankarjev dom

Mladen Dolar - Brecht Foto: Kristina Bursać © Cankarjev dom

Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren.

Die Zeiten sind so – und solche hat es in unserem Leben kaum je gegeben –, dass Journalisten, Kommentatoren, Sozialwissenschaftlerinnen, Philosophen, Intellektuelle, Künstlerinnen, Künstler und Freunde an der Theke geradezu miteinander wetteifern, die düstersten Diagnosen zu stellen: Kriege, Genozid, die sich dramatisch verschärfende ökologische Katastrophe, der Aufstieg bedrohlicher Populismen, die Aussicht auf neue Autoritarismen, neuer Feudalismus oder sogar Faschismus, Militarisierung, Eskalation der Gewalt, der Zusammenbruch der Regeln, die bislang unsere Welt geordnet haben, Vulgarität und Obszönität, Hassrede, die immer größere Bereicherung der ohnehin Reichen, die gefährlichen Fallstricke neuer Technologien und sozialer Netzwerke, der Verlust jeglicher Perspektive auf Solidarität und Emanzipation, der Verlust der Fähigkeit zum kollektiven Handeln. Und je düsterer unsere Diagnosen, je stärker der Zerfall der Welt, desto mehr scheint es, als würden wir heimlich Gefallen an diesen schwarzen Diagnosen finden – an unserer eigenen Ohnmacht und Mutlosigkeit. Als sei uns die Hoffnung und der Mut abhandengekommen.

Wohin also wenden in diesen trüben Zeiten, die keinen Hoffnungsstreif bieten – wenn nicht zu Brecht? Zu Brecht, der durch umwälzende Zeiten des Scheiterns emanzipatorischer Bewegungen lebte, durch den Aufstieg des Faschismus, durch Krieg und Exil, durch neue autoritäre Regime – und der dennoch immer die richtigen Worte fand, Hoffnung und Mut spendete. So dunkel seine Diagnosen auch waren – und sie waren immer dunkel, Brecht machte sich nie Illusionen –, so begnügte er sich doch nie damit. Selbst in den aussichtslosesten Situationen forderte und erfand er Wege, sich ihnen entgegenzustellen. Brecht ist ein Aufruf zum Denken – Denken heißt verändern, sagt Herr Keuner, Brechts Philosoph, der zugleich eine Parodie auf Philosophen ist. Denken bedeutet Verwandlung: sich selbst und die Welt verändern. Brecht ist ein Aufruf zum Humor, der ihm selbst in den hoffnungslosesten Umständen nie fehlte, und Humor war für ihn stets ein Hebel des Denkens.

„‚Woran arbeiten Sie?‘ fragte man Herrn Keuner. Herr Keuner antwortete: ‚Ich habe viel Mühe, ich bereite nämlich meinen nächsten Irrtum vor.‘“ Brecht ist ein Aufruf zum Handeln, das mit Denken und Humor beginnt: „Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren.“ Brecht bedeutet Widerstand gegen jede Selbstzufriedenheit mit dem Gegebenen; jede Gegebenheit, jede scheinbare Vertrautheit entlarvte er in ihrer Fremdheit und in ihrer Möglichkeit zur Veränderung. Brecht ist ein Prozess, der den Ohnmächtigen Kraft verleiht.

„Čas je za Brechta!“ (Zeit für Brecht!) ist der Titel eines Sammelbandes, den der Verlag Studia humanitatis im Jahr 2009 herausgegeben hat. Damals versuchte eine Gruppe slowenischer Theoretikerinnen und Theoretiker – deren inspirierende treibende Kraft Dr. Neda Pagon war –, mit Brecht über die Weltkrise von 2008 nachzudenken. Eine Krise, die uns trotz ihrer drastischen Dimensionen nicht wirklich auf all das vorbereiten konnte, was im darauffolgenden anderthalben Jahrzehnt geschehen sollte. „Zeit für Brecht!“ ist auch das Motto der diesjährigen Saison des Kultur- und Kongresszentrums Cankarjev dom, mit einer neuen Reihe von Vorträgen, Aufführungen und Veranstaltungen. Doch jedes Wiederholen verlangt eine Neuerfindung – im Geiste Brechts muss er immer wieder neu erfunden werden. Und mit ihm: wir selbst.

Herrn Keuner ereilte eine Flut: „Er blieb sofort stehen, um sich nach einem Kahn umzusehen, und solange er auf einen Kahn hoffte, blieb er stehen. Als aber kein Kahn in Sicht kam, gab er die Hoffnung auf und hoffte, daß das Wasser nicht mehr steigen möchte. Erst als ihm das Wasser bis ans Kinn ging, gab er auch diese Hoffnung auf und schwamm. Er hatte erkannt, daß er selbst ein Kahn war.“

Dr. Mladen Dolar

Konzeption der Reihe und Moderation: Dr. Mladen Dolar und Dr. Urban Šrimpf