Interview mit Michael de Vivie,
Künstlerischer Betriebsdirektor des Deutschen Theaters Berlin
Keine Angst vor niemand

  • Keine Angst vor niemand © Goethe Institut

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Nach dem großen Erfolg der Aufführung „Diebe“ des Deutschen Theaters Berlin im Sommer 2014 in der Metropolitan Hall hat das Taipei Arts Festival mit Unterstützung des Goethe Instituts erneut das Deutsche Theater nach Taiwan eingeladen, um seine Produktion „Warten auf Godot“ aufzuführen. Aufführungsort ist wieder die Metropolitan Hall. Gemäß den Modalitäten der bisherigen Zusammenarbeit ist der Künstlerische Betriebsdirektor des Deutschen Theaters, Michael de Vivie, zusammen mit dem Bühnendirektor und technischen Mitarbeitern im März nach Taipei gekommen, um den Aufführungsort in Augenschein zu nehmen. Und ich erhielt die Einladung des Goethe-Instituts Taipei, um zu diesem Anlass mit Michael de Vivie ein Interview zu führen...
 

Keng: Mit diesem Interview möchten wir einerseits dem taiwanesischen Publikum helfen, mehr über das Deutsche Theater zu erfahren. Andererseits möchten wir im Rahmen des Programms über „cultural leadership“ des diesjährigen Taipei Arts Festival mit Michael de Vivie als Theaterverantwortlichem über seine Erfahrungen und Ideen zur Theaterarbeit sprechen. Weitere Fragen werden sich aus diesen Überlegungen ergeben. Als erstes möchte ich fragen, wo beim Deutschen Theater und den anderen vier städtischen Theatern Berlins die jeweiligen Besonderheiten liegen?
 
de Vivie: In Berlin gibt es außer dem Deutschen Theater noch vier weitere große Sprechtheater. Dazu gehört die von Frank Castorf geführte Volksbühne, der diese schon seit 25 Jahren als Intendant leitet. Seine Arbeit wird dort diesen Sommer enden. Frank Castorf hat mit seiner eigenen Regiehandschrift und Regisseuren wie René Pollesch, Christoph Marthaler und Herbert Fritsch der Volksbühne ein unverwechselbares Profil gegeben, das in den letzten Jahren zu Kult geworden ist und viele junge Leute ins Theater zieht. Das Maxim Gorki Theater wird seit 2013 von Şhermin Langhoff geleitet. Sie steht als Deutsch-Türkin für ein post-migrantisches Theater, das eine ganz eigene Community anspricht. Das Berliner Ensemble unter dem Intendanten Claus Peymann, der ebenfalls in diesem Sommer in Ruhestand geht, ist eher traditionell orientiert, wobei die Stücke von Brecht im Zentrum stehen. Der nachfolgende Intendant ist ab Sommer 2017 Oliver Reese, der vom Schauspiel Frankfurt nach Berlin wechselt. Und dann ist noch die Schaubühne am Lehniner Platz zu erwähnen, die seit 1999 von Thomas Ostermeier geleitet wird, der mit seinen eigenen Arbeiten viel international gastiert. Und schließlich das Deutsche Theater...
 
Keng: Genau, worin liegt der wesentliche Unterschied zwischen dem Deutschen Theater und den anderen vier Bühnen?
 
de Vivie: Ulrich Khuon ist seit 2009 Intendant des Deutschen Theaters. Mit drei Bühnen ist es ein typisches Stadttheater im besten Sinn: mit dem größten und besten Ensemble, das Berlin vorzuweisen hat. Das Deutsches Theater steht für die Förderung junger Autorinnen und Autoren durch ein vielfältiges Programm an Gegenwartsdramatik und den „Autorentheatertagen“, einem Festival für aktuelle Dramatik, das einmal im Jahr die wichtigsten neuen deutschsprachigen Produktionen von Gegenwartsdramatik in Berlin versammelt. Wichtig ist außerdem die Auseinandersetzung mit der Gegenwart im Spiegel der Historie, politische Relevanz und starke, ganz unterschiedliche Regiehandschriften. Beispielsweise inszenierte Sebastian Hartmann jüngst „Gespenster“ von Henrik Ibsen, wobei er Strindbergs „Der Vater“ und Heines „Deutschland. Ein Wintermärchen“ in Ibsens Werk integrierte. Ein sehr aufregender Abend, denn durch dieses collagehafte Verdichtung entstand etwas ganz Neues, sehr Lebendiges...
 
Keng: Ich habe gesehen, dass Sie im vergangenen Jahr auch mit einem jungen koreanischen Regisseur zusammengearbeitet haben. Bedeutet das, dass Sie Kooperationen auch mit außereuropäischen Ländern eingehen wollen?
 
de Vivie: In den letzten fünfzehn Jahren haben wir oft Einladungen von Theaterfestivals aus der ganzen Welt erhalten. Außerdem versuchen wir eine internationale Koproduktion pro Spielzeit zu erarbeiten, wie beispielsweise die Koproduktionen mit Tel Aviv oder Seoul. Wir haben einige Monate lang in diesen beiden Städten geprobt und dann jeweils dort und in Berlin aufgeführt. Wir hatten auch ein Jahr lang ein Austauschprogramm mit Beijing, im kommenden Jahr arbeiten wir mit dem Gogol Center in Moskau zusammen. Der Regisseur Kirill Serebrennikov wird ein Stück am Deutschen Theater inszenieren und wir planen einen großen Gastspielaustausch, zwei Inszenierungen aus Moskau sollen in Berlin gezeigt werden und umgekehrt. Das Deutsche Theater ist auch Mitglied im ETC (Abkürzung für „The European Theatre Convention“) und außerdem im Netzwerk europäischer Theater „Mitos 21“. Über diese Plattformen haben wir beispielsweise auch mit dem Slovakischen Nationaltheater Bratislava koproduziert. Vor ein paar Jahren entstand in Zusammenarbeit mit „Mitos21“, ein Abend in dem über zehn verschiedene internationale Theater denselben Text (Obamas Speech / Camerons Speech) in der jeweiligen Landessprache inszenierten. Das überaus spannende Ergebnis konnten wir dann unter dem Titel „David's Formidable Speech on Europe“ in Berlin vorstellen.
 
Keng: Dann möchte ich Sie noch fragen, wie Sie den Spielplan für jedes Jahr planen?
 
de Vivie: Unser Intendant Ulrich Khuon berät mit unseren Dramaturgen über Themen, die ein Spielzeitmotto sein könnten. In diesem Prozess kristalliert sich meist ein Thema heraus, das dann das Motto der bevorstehenden Spielzeit wird. Danach bespricht er darüber mit den Regisseuren, mit denen er dazu passende Stücke sucht. So ist beispielsweise das Thema der kommenden Saison „Welche Zukunft“. Es geht darum, wie wir unsere eigene Zukunft gestalten können. Und das Motto der letzten Spielzeit war „Keine Angst vor niemand“...
 
Keng: ... das heißt, es verhält sich in etwa so wie bei der Planung eines Theaterfestivals. Jedes Jahr gibt es ein neues Thema, das für das Programm den Grundton vorgibt. Ist das ein Konzept, das der Intendant von jeher verfolgte oder gibt es das erst seit einiger Zeit? ...
 
de Vivie: ... Die inhaltliche Verknüpfung ist Ulrich Khuon ein großes Anliegen; in seinem Herzen ist er mehr Dramaturg als Intendant. Die Zuschauer und auch das Ensemble schätzen dies, weil es zeigt, dass das Gesamtprogramm einen Fokus hat.
 
Keng: Ich würde gerne wissen, wie Sie es schaffen, neues, junges Publikum für sich zu gewinnen, wie interagieren Sie mit ihnen?
 
de Vivie: Wir haben am Deutschen Theater eine weitere Abteilung, die wir „Junges DT“ nennen. Wir veranstalten für Zuschauer im Alter von 10 bis 24 Jahren Aufführungen und Workshops. Dazu gehört in der Regel eine große Inszenierung mit Jugendlichen, die in unseren Kammerspielen stattfindet, ein Programm also, das speziell auf das junge Publikum zugeschnitten ist. Wir haben außerdem jedes Jahr mehrere Stücke, in denen wir professionelle Schauspieler unseres Theaters mit Kindern und Jugendlichen zusammenarbeiten lassen. Interessant dabei ist, dass einige der teilnehmenden Kinder später selbst auf die Idee kommen, die Schauspielschule zu besuchen. So haben wir zum Beispiel im kommenden Jahr eine Schauspielerin, die ursprünglich als Jugendliche hier in Aufführungen mitgewirkt hat, dann von einer Schauspielschule angenommen wurde und gerade aktuell in unser festes Ensemble aufgenommen wurde. Weil wir diese Programme haben, die speziell auf Kinder und Jugendliche abzielen, besuchen uns viele neue Zuschauer, die von klein auf mit dem Theater aufwachsen.
 
Keng: Als Nächstes möchte ich fragen, welche Inszenierungen oder Programme es in den letzten paar Jahren gab, auf die Sie besonders stolz sind?
 
de Vivie: Aus meiner Sicht mag ich ganz besonders „Berlin Alexanderplatz“ unter der Regie von Sebastian Hartmann, das von Alfred Döblins gleichnamigem Roman adaptiert wurde, ein sehr bewegendes und poetisches Werk. Eine großartige Aufführung sind auch die vor zwei Jahren beim Taipei Arts Festival aufgeführte „Diebe“ von der Dramatikerin Dea Loher, inszeniert von Andreas Kriegenburg. Ein Kultstück ist auch „Demokratie“ von dem englischen Dramatiker Michael Frayn. Regie führten gemeinsam Tom Kühnel und Jürgen Kuttner. Natürlich gehört auch die vom Berliner Theatertreffen im vergangenen Jahr eingeladene Inszenierung „Väter und Söhne“ in einer von Brian Friel adaptierten Fassung von Turgenjews gleichnamigem Roman dazu. Eine puristische Inszenierung, mit großartigen  Schauspielern im Zentrum, die inmitten der Zuschauer das Stück aufführen. Da es sich hier um eine Familiensaga handelt, bekommen die Zuschauer das Gefühl, ganz nah dabei zu sein. Ich mag diese Inszenierung von Daniela Löffner sehr. Bei „Die Glasmenagerie“ von Tennessee Williams führte Stephen Kimmig Regie. Die Premiere war erst im Dezember vergangenen Jahres. Der Regisseur entstaubte diesen etwas in die Jahre gekommenen Klassiker. Das Ergebnis ist zum Lachen und Weinen. Eine sehr bewegende Inszenierung mit phantastischen Schauspielern.
 
Keng: Gut, können wir dann über das Stück „Warten auf Godot“ sprechen, das Sie dieses Jahr beim Taipei Arts Festival auf die Bühne bringen werden? Mit dem ursprünglich vorgesehenen bulgarischen Regisseur, Dimiter Gotscheff, hatten Sie schon lange zusammengearbeitet...
 
de Vivie: Ja, wir haben früher regelmäßig mit Dimiter Gotscheff zusammengearbeitet. Es war schon abgesprochen, dass er bei „Warten auf Godot“ Regie führen würde, doch bevor die Proben beginnen konnten, ist er plötzlich verstorben. Wir waren alle schockiert und wussten zunächst überhaupt nicht, was wir machen sollten. Doch da es schon eine Besetzung gab und bereits Ideen mit dem Bühnenbildner Mark Lammert ausgetauscht waren, haben wir uns entschlossen, dieses Stück in seinem Gedenken mit den Schauspielern Wolfram Koch, Samuel Finzi, Christian Grashof, Andres Döhler doch auf die Bühne zu bringen. Als Regisseur für dieses Stück wurde Ivan Panteleev gefunden. Er ist ein langjähriger Freund Gotscheffs, hat regelmäßig als sein dramaturgischer Berater fungiert und ist selbst Regisseur. Die Arbeit wurde als Koproduktion mit den Ruhrfestspielen Recklinghausen herausgebracht und ein großer Erfolg. 2015 wurde die Inszenierung zum Theatertreffen eingeladen und gastierte 2016 in Peking und Shanghai.
 
Keng: „Warten auf Godot“ ist ein sehr wichtiges Stück, ich denke, das bedeutet, dass Sie großen Wert auf die Texte legen und es gerade deshalb die „Autorentheatertage Berlin“ gibt, um neue Dramatiker zu entdecken. Ich glaube, dass das auch eine Veranstaltung ist, die Ihr Intendant sehr wichtig nimmt und dass dies auch ein Zeichen dafür ist, dass nicht nur die Regisseure und die Schauspieler eine wichtige Rolle spielen.
 
de Vivie: Unser Intendant, Ulrich Khuon, verfolgt schon seit vielen Jahren intensiv die Entwicklung des deutschsprachigen Theaters. Seit seiner Intendanz am Thalia Theater in Hamburg hat er immer neue Dramatik gefördert, da er der Überzeugung ist, dass zeitgenössische Stücke tiefere Einsichten in den Zustand der Gesellschaft liefern. Daher lädt das Theater jedes Jahr 20 Autoren aus Deutschland, Österreich, der Schweiz, ihre Stücke bei den Berliner Autorentheatertagen aufzuführen. Wir haben auch einen Ausschreibung eingeführt. Bisher unaufgeführte Stücke erhalten die Möglichkeit, im Deutschen Theater uraufgeführt zu werden. Daher reichen im Jahr etwa 150 Dramatiker ihre Stücke ein. Seit mehreren Jahren arbeiten wir mit dem Burgtheater Wien und dem Schauspielhaus Zürich zusammen. Sie koproduzieren von uns ausgewählte neue Stücke, die dann auch in Berlin aufgeführt werden. Oft werden diese neuen Autoren von anderen Theatern nachgespielt.
 
Keng: Möchten Sie vielleicht etwas zu Theaterautoren sagen, die Sie entdeckt haben, wie Dea Loher, die ja ein sehr gutes Beispiel dafür ist...
 
de Vivie: Dazu gehört Roland Schimmelpfennig als Autor von „Der Goldene Drache“, der früher am Schauspielhaus Zürich arbeitende Lukas Bärfuss und der jetzt für uns Stücke schreibt. Außerdem Philipp Löhle, Dirk Laucke und Ferdinand Schmalz. Ich will nicht behaupten, dass alle diese Theaterautoren von uns entdeckt wurden, aber sie sind zumindest bei uns am Deutschen Theater bekannt geworden.
 
Keng: Ich möchte Sie noch gerne fragen, wie Ulrich Khuon das Deutsche Theater führt, wie ist sein Führungsstil?
 
de Vivie: In den Strukturen in Deutschland ist der Intendant die Person, die letztendlich über alle Details entscheidet. Ulrich Khuon arbeitet immer im engem Austausch mit den Kollegen zusammen und bespricht sich mit den Dramaturgen und Schauspielern. Wenn es unterschiedliche Meinungen gibt, übt er keinen Druck aus, sondern beginnt eine Diskussion. Alles auf Augenhöhe und im ständigen Austausch. Da er nicht inszeniert, nimmt er sich viel Zeit für die unterschiedliche Belange des Hauses.
 
Keng: Ich verstehe, also anders als Intendant Peymann vom Berliner Ensemble oder Castorf von der Volksbühne, die eher für einen dominanten Stil bekannt sind...
 
de Vivie: Wir unterscheiden uns mit Sicherheit von beiden Häusern und sind sehr glücklich, dass Ulrich Khuon das Deutsche Theater leitet (aktueller Nachtrag: der Vertrag von Ulrich Khuon wurde gerade bis 2022 verlängert).
 
Keng: Dann möchte ich Sie auch nochmal fragen nach Ihrer eigenen Rolle am Deutschen Theater. Wenn Sie mit technischen, administrativen oder anderen Fragen konfrontiert sind und manche Kollegen haben eine gegensätzliche Meinung, wie lösen Sie dann solche Meinungsverschiedenheiten?
 
de Vivie: Ich bin als Künstlerischer Betriebsdirektor zuständig für viele verschiedene Bereiche. Ich würde sagen, ein Hauptteil der Arbeit ist Vernetzung. Meine Abteilung ist einen wichtige Schnittstelle zwischen Künstlern, Technik, Theaterleitung und Verwaltung.
 
Keng: Wie sieht dann Ihre Arbeitsteilung mit dem Intendanten aus?
 
de Vivie: Wir sind in regem Austausch. Ich versuche, Dinge zu ermöglichen, vorzuplanen und ihm einen Teil seiner Arbeit abzunehmen.
 
Keng: (lacht) Ich finde, das ist eine sehr gute Arbeitseinstellung ...Ich würde gerne mal wissen, wie viele Menschen beim Theater eigentlich beschäftigt sind, wie viele Angestellte gibt es, wie viele Schauspieler, wie viel technisches Personal?
 
de Vivie: Im Deutschen Theater sind rund 300 Menschen beschäftigt. Unser Ensemble besteht aus ca. 45 Schauspielern, die fest engagiert sind.
 
Keng: Das Taipei Arts Festival ist öffentlich organisiert, daher müssen die jedes Jahr übrig gebliebenen Gelder abgegeben werden. Sie sind ein städtisches Theater, müssen Sie auch überschüssige Finanzmittel wieder abgeben?
 
de Vivie: Wir können solche Gelder behalten und verbrauchen. Das hilft uns manchmal, Stücke oder Projekte zu ermöglichen, für die der normale Etat nicht ausreichen würde.
 
Keng: Haben die technischen Mitarbeiter denn eine Gewerkschaft, muss man sich mit der Gewerkschaft abstimmen?
 
de Vivie: Die meisten technischen Mitarbeiter sind gewerkschaftlich organisiert. Wir haben aber auch einen Personalrat aus Vertretern der Belegschaft. Worüber derzeit oft diskutiert wird, ist die Festlegung der Arbeitszeiten bei künstlerischen Berufen. Hier ist die Theaterleitung und der Personalrat in regem Austausch.
 
Keng: Was empfinden Sie als erfahrener Verantwortlicher eines Theaters als etwas Besonderes im Führungsstil oder dem Management in der darstellenden Kunst verglichen mit anderen Bereichen wie etwa dem Militär oder der Geschäftswelt?
 
de Vivie: Es ist schwer, hier allgemeine Grundsätze aufzustellen. Ich kenne mich beim Militär nicht aus. Der Chef eines Theaters kann ein Regisseur sein, ein Dramaturg oder ein künstlerischer Manager. Unterschiedliche Biografien haben verschiedene Führungsstile zur Folge. Das Schöne am Theater ist, dass es um künstlerische Prozesse geht. Natürlich muss auch am Theater verantwortlich gewirtschaftet und geplant werden, aber ich empfinde es als Privileg an künstlerischen Prozessen mitzuwirken.
 
Keng: ...Aber dennoch gibt es sicher Unterschiede, oder nicht? Das Theater ist natürlich ein Prozess des kollektiven Schaffens und bei Proben geht es oft chaotisch zu. Wie gehen Sie mit diesem Chaos um, gerade hier gibt es doch bestimmt verschiedene Arten von Führungsstilen, oder?
 
de Vivie: Natürlich, Geduld ist auf jeden Fall vonnöten. Zum künstlerischen Schaffensprozess gehört Chaos auf jeden Fall dazu und Künstler sind ja auch empfindsamer als andere Menschen und brauchen ihre Aufmerksamkeit. Eine Aufführung am Theater ist etwas völlig anderes als etwa ein fester Arbeitstag in einer Fabrik. Man muss zuhören, Geduld haben und trotzdem Entscheidungen treffen können, zugleich offen und entschieden sein. Wir möchten Schauspielern und Dramatikern unterschiedlichster Stilrichtungen möglichst gute Arbeitsbedingungen und Freiräume bieten.
 
Keng: Welche Bedeutung hat das Theater für die zeitgenössische Gesellschaft?
 
de Vivie: In Deutschland können bei den staatlich subventionierten Theatern völlig unabhängig agieren. Sie sind daher eine der letzten Freiräume der Gesellschaft, etwa analog zur Agora des antiken Griechenlands.
Sie bieten die Möglichkeit, gesellschaftliche Fragen öffentlich zu machen, sei es in Form von Theaterproduktionen oder in Form von Diskussionsanstößen. Dafür gibt es keinen besseren Raum als das Theater. Unabhängig vom konkreten Inhalt einer Aufführung ist das Theater in diesem Kontext immer auch politisch.
 

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