Berliner Theatertreffen
5 Easy Pieces

  • 5 Easy Pieces © Phile Deprez

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Das kontroverseste Stück beim diesjährigen Berliner Theatertreffen dürfte das Stück „Five Easy Pieces“ von Milo Rau sein. Es geht dabei um das größte nationale Trauma in der neueren Geschichte Belgiens: Die Geschichte des üblen Kinderschänders und Serienkillers Marc Dutroux. 

Im Laufe der Jahre 1995 und 1996 wurde entdeckt, dass Dutroux sechs Mädchen im Alter zwischen 9 und 18 Jahren sexuell missbraucht hatte. Als die Polizei Dutroux festnahm, entdeckte sie in seinem Keller vier Leichen, zwei Mädchen konnten glücklicherweise lebend gerettet werden. Dieser Fall löste in der gesamten belgischen Gesellschaft einen gewaltigen Schock aus. Traumasyndrome und die Frage über den richtigen Abstand zwischen „Kindern und Erwachsenen“ wurden zu einem äußerst sensiblen Thema. Manche Leute propagierten sogar, dass man „Kinder nicht mehr küssen oder umarmen solle“, um eine Wiederholung ähnlicher Fälle zu vermeiden. Die Geschichte dieses Mörders, die jedem bekannt ist, stellt den wesentlichen Hintergrund von Raus neuem Stück dar.
 
Es ist nichts Außergewöhnliches, die Geschichte eines Täters von Sexualverbrechen an Kindern und eines Mörders zu erzählen und es ist auch nichts daran auszusetzen, unterschwellige Traumata wieder zum Thema zu machen. Doch Milo Rau lässt hier sehr mutig sieben Kinder und einen Erwachsenen dieses Stück aufführen, bei dem die Kinder dieses Theaterstück einem Dokumentarfilm ähnlich auf die Bühne bringen (und dies, obwohl Rau im Interview erklärt, dass er kein Interesse an dokumentarischen Stücken habe und dass er ohne besondere Absicht die Geschichte von Dutroux „neu aufführt“, er würde nur mit diesem Thema seine Erzählung beginnen).
 
Im Stück wird die Rolle eines „Regisseurs“ von Peter Seynaeve gespielt, der zu Beginn des Stücks jedes der Kinder interviewt. Jedem dieser schauspielernden Kinder werden Fragen zur Person und zum Fall Dutroux gestellt. In den folgenden fünf verschiedenen Abschnitten „spielen“ diese Kinder den belgischen König Leopold II. aus der Zeit der kolonialen Besetzung des Kongo, den Politiker der kongolesischen Demokratiebewegung Patrice Lumumba, Dutroux‘ Vater, den in dem Fall das Verhör führenden Polizisten, die Eltern eines vermissten Mädchens sowie ein im Keller eingeschlossenes Mädchen, das gerade sein an seine Eltern gerichtetes Testament schreibt.
 
Das Produktionsteam wählte aus zweihundert Bewerbungen sieben Kinder für das Stück aus. Natürlich hatten diese Kinder alle schon einmal von dem Fall Dutroux gehört. Die größte Leistung bei den von Milo Rau eingesetzten Mitteln besteht sicher darin, dass die Zuschauer in diesem Stück ein Gefühl der Beklemmung erleben, wenn die Grenzen ihrer ethischen und moralischen Vorstellungen ausgelotet werden. Gleichzeitig schafft er es, die richtige Distanz zu wahren, so dass die Zuschauer nicht das Gefühl haben, dass die Kinder benutzt werden und doch fühlen sie sich mitten in das Geschehen versetzt, um die in diesem Fall zugefügten Traumata nachzuempfinden.
 
Indem Milo Rau die gesamte belgische Geschichte betrachtet, wird einem bewusst, dass es zwischen dem Fall Dutroux und der belgischen Kolonialherrschaft im Kongo (1908-1960) einige auffällige Parallelen gibt. Dutroux‘ Vater war damals mit seiner ganzen Familie in den Kongo ausgewandert und blieb dort, bis Dutroux 4 Jahre alt war. Erst wegen der Kongo-Krise zog er wieder zurück nach Belgien. Durch die Gegenüberstellung der Gewalttaten während der belgischen Kolonialherrschaft im Kongo, die Verbindung der Familie Dutroux mit dem Kongo sowie die späteren Verbrechen Dutroux‘ macht Milo die Zuschauer auf eine Kette von Ursachen und Wirkungen aufmerksam: Gewalt, Ungleichheit, Besatzung, Kolonialismus, Geschichte, Einkerkerung usw. Dabei lässt er den Zuschauern Raum für eigene Vorstellungen, mit denen sie diese wichtigen historischen Ereignisse neu betrachten und zu einem neuen Verständnis kommen.
 
Peter Seynaeve, der gleichzeitig als Schauspieltrainer für die Kinder agiert, erwähnt im Interview zwei sehr interessante Erfahrungen, die während der Proben gemacht wurden.
 
Er sagt: „Viele Zuschauer reagierten in der Weise, dass sie es als zu grausam empfanden, wenn Kinder selbst die Rolle von Opfern sexuellen Missbrauchs spielen sollten oder die der Angehörigen der Opfer oder gar die Rolle des Polizisten, der die Details der Verbrechen durchdiskutiert.“
 
„Die Phantasiewelt der Kinder ist allerdings von der Phantasiewelt von uns Erwachsenen ganz verschieden“, sagt Seynaeve. „Insbesondere ihre Definition des ‚Schauspielerns‘ unterscheidet sich grundlegend beispielsweise von meiner Definition oder der von Schauspielern, die eine professionelle Schauspielerausbildung durchlaufen haben.“
 
„Unsere „Schauspieler“ versuchen, sich in die Gefühle ihrer Rollen im Stück einzufühlen und folgen dabei dem System Stanislavskys oder anderen Schauspielmethoden. Sie müssen tief in die Rolle eindringen, um das innere Leiden hervorzubringen.“ Doch lachend fügt Seynaeve hinzu: „Für die Kinder ist es allerdings so, dass sie sehr genau unterscheiden: Schauspielern ist Schauspielern, das hat mit der Realität nichts zu tun. Sie messen dabei sogar rein technischen Fragen große Bedeutung bei. Beispielsweise machte ein Mädchen, das die Rolle der Mutter eines der Opfer spielte, nachdem wir mit den Proben zur Hälfte durch waren, von sich aus folgenden Vorschlag: „Ich finde, ich sollte an dieser Stelle weinen, das würde besser wirken.“ Ich sagte ihr, dass das nicht nötig sei, aber sie bestand entschieden darauf. Schließlich wollten wir das spontan handhaben: wenn sie in der Lage war, zu weinen, sollte sie weinen; wenn nicht, dann konnte sie ein bisschen von einer die Augen reizenden Creme verwenden.“
 
„Für die Kinder ist das Schauspielern ganz einfach eine Art Arbeit. Natürlich haben sich Kinder auch oft nicht unter Kontrolle.“
 
In dem Stück gibt es eine Szene, in der ein Mädchen vor seinem Tod seinen Eltern den Inhalt seines Testaments erklären soll. In dem Stück ist vorgesehen, dass sie dafür ihren Oberkörper entblößen muss und nur mit einer Unterhose bekleidet im dunklen Keller sitzend diese Szene spielt. Seynaeve fordert das Mädchen in dem Stück auf, ihr Oberteil auszuziehen, um mit der nächsten Szene fortfahren zu können.
 
„Viele Zuschauer folgen ihren eigenen Vorstellungen und sehen mich dabei als eine Art verrückten, abnormalen Onkel“, sagt Seynaeve. „Ich kann das verstehen, sie sehen ja einen ergrauten Mittvierziger, der im großen Saal vor den ganzen Leuten ein noch keine zehn Jahre altes Mädchen dazu auffordert, ihren Oberkörper zu entblößen, das hinterlässt bei ihnen natürlich ein ungutes Gefühl.“
 
„Die Kinder genießen allerdings absolute Autonomie und können selbst entscheiden, ob sie Kleider ausziehen wollen oder nicht. Wir haben uns auch viel mit den Eltern darüber verständigt. Das ist für uns äußerst wichtig. Hierzu kann ich etwas Lustiges erzählen: der Vater des Mädchens ist sehr offen und als wir ihm eröffneten, dass das Mädchen möglicherweise in einem Szenenübergang ihren Oberkörper freimachen sollte, antwortete er ganz zwanglos: „Das ist kein Problem, zuhause rennt sie am liebsten ganz ohne Kleider herum!“
 
„Doch ganz wichtig ist, dass wir mit den Schauspielern und mit den Eltern der Schauspieler einen 24 Stunden offenen Kommunikationskanal haben. Manche Eltern gehen mit uns zusammen auf Tournee und wir haben Tutoren engagiert, damit die Kinder auch im Schulunterricht mitkommen. Sie verhalten sich genauso wie andere Kinder. Sie streiten sich und machen Krach, sie wollen in den Park zum Spielen und zum Picknick, das machen wir auch, wenn gerade keine Proben sind.“
 
Formal betrachtet, hat Rau Erwachsene ausgewählt, die diesen Kindern ähnlich sehen und mit denen manche Szenenübergänge gefilmt werden, die dann während der Aufführungen als Projektion gezeigt werden. Auf diese Weise ergibt sich ein „gleichzeitiges Auftreten“ der Kinder (live) und dieser Erwachsenen (zuvor aufgenommen). Ich finde, das ist eine sehr intelligente Vorgehensweise. Aus dramaturgischer Sicht schafft diese visuelle Ebene nicht nur eine andere Art von visuellen Reizen, sondern stellt auch die Verbindung her zwischen dem Schauspiel des Theaters (Kinder) und der Realität (Erwachsene). Sie thematisiert auf diese Weise auch die Fragen, „was bedeutet es, zu schauspielern“ und „woran glauben wir eigentlich?“.
 
Wenn die Kinder auf der Bühne zuweilen unkontrolliert reagieren und sich ganz authentisch ausdrücken, führt das oft dazu, dass die Zuschauer lachen müssen. Doch in dem Augenblick, in dem wir darüber lachen, wird uns auch bewusst, dass wir eine historische Vergangenheit betrachten, der wir uns nicht stellen wollen und die uns entsetzt. Während der gesamten Aufführung erleben wir ein unablässiges Auf und Ab zwischen Beklemmung und Fröhlichkeit. Ob Fröhlichkeit oder Horror, ich meine, dass Milo Rau seinen Plan erfolgreich umgesetzt hat und damit historische Ereignisse als ersten Teil einer historischen Trilogie realisiert hat.

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