Brasilianische Kunst
Widerstand gegen Widrigkeiten

Ein Mann steht vor einer Tür, auf der Wand neben ihm steht „CERRADO NO HAY PASO“
„Ich überbringe Nachrichten an die USA: Geschlossen, Kein Durchgang“ | Foto (Detail): © Paulo Nazareth

Die kulturelle Produktion Brasiliens von den experimentellen Bewegungen der 1960er-Jahre über die Ästhetik der Improvisation der 2000er bis zur aktuellen Notwendigkeit des politisch motivierten Exils steht durchgängig unter einem Motto: Sie will von materiellen wie gesellschaftlichen Widrigkeiten aus schöpferisch sein. Das Prekäre wird dadurch zum konzeptuellen Instrument.

Von Nathalia Lavigne

Es gibt viele Ansätze für den Versuch, das Besondere und Charakteristische der brasilianischen Kunstproduktion zu begreifen. Eine der bekanntesten Interpretationen lieferte der Kritiker Rodrigo Naves in seinem Band A forma difícil (dt.: Die schwierige Form; 2011), einer Sammlung von Essays über sieben in Brasilien geborene oder ansässige Künstlerinnen und Künstler im 19. bis Mitte des 20. Jahrhunderts. Deren Gemeinsamkeit ist, was der Autor als „Schwierigkeit in der Form“ bezeichnet, ein „Widerstreben, die Werke stärker zu konturieren“, eine Art Schüchternheit, die sich stark unterscheidet von einer „stark auftretenden internationalen modernen Produktion“.

Neben den in den sieben Essays behandelten Künstlerinnen und Künstlern nennt der Kritiker weitere Namen, um seine These zu stützen. Die schwierige Form ließe sich seiner Meinung nach auch auf Hélio Oiticica (1937–1980) anwenden. Von diesem stammt das berühmte Motto „Von der Widrigkeit leben wir!“ aus seiner Einführung zur historischen Ausstellung Nova Objetividade Brasilieira (dt.: Neue Brasilianische Sachlickeit) im Januar 1967 im Museum für Moderne Kunst von Rio de Janeiro. Hier postulierte der Künstler seine Ideen, die ihn zu einem der wichtigsten Namen der zeitgenössischen Kunst nicht nur in Brasilien werden ließ. Und dies laut Naves nicht nur durch sein Werk, sondern auch durch seinen Text, der eine der „ersten theoretischen Interventionen dieser Art durch einen brasilianischen Künstler“ gewesen sei.

Engagierte und partizipative Kunst

In derselben Ausstellung – und einem Klima großer politischer Nervosität im Jahr vor der repressivsten Periode der brasilianischen Militärdiktatur nach dem Verfassungsdekret AI-5 von 1968 – präsentierte Oiticica seine Installation Tropicália, in der sich seine Vorstellungen einer engagierten und partizipativen Kunst wohl am meisten verdichten.

Vom Künstler selbst als „allererster bewusster und objektiver Versuch, dem aktuellen Zusammenhang der Avantgarde ein selbstverständlich brasilianisches Bild zu verleihen“ bezeichnet, lädt das Werk den Betrachter/die Betrachterin (oder wie er es nannte „Beteiligte“) zu einem Weg durch ein Labyrinth ein, das über sandigen Boden durch eine szenische Umgebung führt, die in tropischer Atmosphäre alle damit verbundenen Symbole und Klischees reproduziert: Pflanzen, Aras, Gegenstände aus buntem Plastik bis zu einem eingeschalteten Fernseher in der Dunkelheit. Unmöglich, hier zu einer Art homogenem Schluss zu gelangen, was dieses brasilianische Bild denn nun sei. Oder, nach der sehr treffenden Definition des Kritikers Celso Favaretto: „Tropicália schafft kein umfassendes Bild von Brasilien (unfassbar, irrational, überbordend, absurd, surreal), sondern zerschlägt diese Darstellung.“

Ästhetik des Improvisierten

Die Ausstellung Nova Objetividade Brasileira beeinflusste eine ganze kulturelle Bewegung ihrer Zeit – unter anderen den Musiker Caetano Veloso, dessen Lied Tropicália (1967) schon im Namen den Dialog mit dem Werk Oiticicas trägt, den Filmemacher Glauber Rocha oder die Theatergruppe Oficina. Darüber hinaus spielte die Ausstellung eine bedeutende Rolle bei der Definition einiger Grundzüge der zeitgenössischen Kunst einiger Jahrzehnte später.

Ein Beispiel dafür ist das Panorama Brasilianischer Kunst im Museum für Moderne Kunst (MAM) von São Paulo, das 2007 unter dem Titel Contraditório (dt.: Widersprüchlich) stand. In seinem Einleitungstext nimmt Kurator Moacir dos Anjos das Motto „Von der Widrigkeit leben wir“ auf, um zu kontextualisieren, was später als „Ästhetik der Improvisation“ („estética da gambiarra“) bekannt werden sollte. Der Ausspruch des Künstlers in seiner provokanten Bedeutung – hier als Ausdruck der Dringlichkeit einer sperrigen und unabhängigen Haltung wie auch der Fähigkeit, unter materiell wie gesellschaftlich widrigen Bedingungen schöpferisch tätig zu sein – wird als einer der konzeptuellen Vektoren der Produktion jener frühen 2000er-Jahre wieder aufgenommen. Das war eine Zeit des rasanten Aufstiegs brasilianischer Künstlerinnen und Künstler auf nationaler und internationaler Ebene.

Zwei Männer sitzen in der Wüste mit Schildern, auf denen „Was wollt ihr?“ steht.
Paulo Nazareth, „Untitled“, aus dem Projekt „Cadernos de África“, 2013 | Foto (Detail): © Paulo Nazareth
Unter den in der Schau vertretenen Namen verkörperte der Künstler Marepe dieses Konzept der „gambiarra“ am besten. Seine Objekte aus gewöhnlichen Materialien transportieren eine ihnen innewohnende Instabilität, als könnten sie sich jeden Moment auflösen. Oder der Widerspruch steckt – wie im Fall des dort ausgestellten Werks A mudança (dt. Der Umzug aber auch Die Veränderung), ein Lastwagen in Originalgröße mit Möbeln auf der Ladefläche, alles komplett aus Holz wie ein Spielzeug –  in der Unmöglichkeit der Bewegung, die der Titel impliziert.

Das Konzept „Kunst-Sertão“

Die von größerer politischer und wirtschaftlicher Instabilität gezeichneten 2010er-Jahre führten zu einem weiteren wichtigen Wendepunkt in der Kulturproduktion des Landes. Und wieder wies das Ergebnis in zwei entgegengesetzte Richtungen: Obwohl die Zeit in Sachen öffentlicher Unterstützung für die Kultur weniger ertragreich war, kam es zu einer wachsenden Diversität im Profil der Künstlerinnen und Künstler. Und damit erstand auch der Gedanke des Widerstands gegen Widrigkeiten mit neuer Kraft.

Museumsausstellung, die viele verschiedene Teller zeigt
Dalton Paula: „Bamburrô“, 2019. | Foto (Detail): © Nelson Kon

Als weiteres Beispiel präsentierte das Panorama Brasilianischer Kunst in seiner 36. Ausgabe 2019 das Konzept „Arte-Sertão“ und stellte dieses in der brasilianischen Kunst so präsente Wort in einen Dialog mit der Kunstproduktion, deren zentrales Element Experiment und Widerstand sind. Die Ungenauigkeit hinsichtlich des Territoriums „sertão“ [die Trockensteppe im zentralen brasilianischen Hinterland], wo genau es beginnt oder endet, durchquert auch den Ansatz Júlia Rebouças, die diese Schau kuratierte. Oder in ihren Worten im Einleitungstext: „Mehr als ein Ort ist der Sertão ein Zustand des Übergangs und der Durchreise“.

Die Auswahl der Künstlerinnen und Künstler priorisierte Namen von außerhalb der großen Zentren, insbesondere der Regionen Nordosten und Mittlerer Westen des Landes – die beide von der Geografie und Kultur des Sertão geprägt sind –, darunter Dalton Paula aus Goiânia, bekannt wegen seiner Blattgold-Porträts von Namen der afrobrasilianischen Kultur von dem Schriftsteller Lima Barreto bis zu heutigen Bewohnerinnen und Bewohnern von Quilombos, aber auch weniger bekannte Namen wie Gervane da Paula aus Cuiabá, Mato Grosso, einer von Gewalt und Zerstörung auf unterschiedlichsten Ebenen geprägten Region. Sein Gemälde mit dem Schriftzug „Arte aqui eu mato“ (dt. ungefähr: „Kunst hier töte ich“; 2016) in Anspielung auf das Buch Arte aqui é mato (dt. etwa: Kunst hier ist Wildnis; 1990) der Kritikerin Aline Figueiredo aus Mato Grosso war eines der Werke, die am besten das kollektive Gefühl seit der Wahl von Jair Bolsonaro 2018 versinnbildlichen, dessen Prozess einer landesweiten Zerstörung von Kultur die künstlerische Gemeinschaft empfindlich beeinträchtigt.

Übergang und Exil

Nicht zufällig tauchen Exil und (Grenz-)Übergang als Themen wieder in der aktuellen Produktion auf. Es ist das Ergebnis einer Realität für Künstlerinnen und Künstler, die das Land verlassen oder den Zustand der Wanderung in ihr Werk aufgenommen haben. So zum Beispiel Paulo Nazareth, der 2011 sein bekanntestes Werk schuf: Er wanderte sechseinhalb Monate lang von seiner Stadt im Umland von Belo Horizonte nach Miami zur Teilnahme an der Art Basel. Einige Jahre später wiederholte er diese Performance-Wanderung in Cadernos da África (dt.: Afrika-Hefte) durch Länder des Kontinents seiner Vorfahren. Nazareth war einer der 214 Namen einer weiteren wichtigen Ausstellung des letzten Jahrzehnts: Histórias Afro-Atlânticas (dt.: Afro-Atlantische Geschichten; 2018), einer minutiösen historischen Betrachtung der Menschenströme zwischen Afrika, dem amerikanischen Kontinent und der Karibik im 16. bis 21. Jahrhundert.

Der Zustand des Übergangs, für Nazareth und andere ein zentraler Begriff, war mit den Restriktionen im Zuge der Pandemie seit 2020 nicht mehr möglich. Bleibt nun, zu erleben, welche Formate künstlerischer Praxis von heute aus noch entstehen werden, mit neuen Widrigkeiten, denen es zu begegnen gilt. Mit dem Prekären wird man weiterhin noch lange zu tun haben.

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