Merle Kröger
Das Eigene, das Edle, das Vorgefundene

Merle Kröger
Merle Kröger | Foto: © Rainer Schleßelmann

Die Autorin und Filmemacherin Merle Kröger kombiniert in ihren Arbeiten einen realistischen Blick auf unsere Zeit, unerschütterliche Sympathie für die Bedrängten der Welt und ein Faible für die Ausgelassenheit.
 

Aus dem Kongo hat Merle Kröger ein schönes Wort mitgebracht: Kizoba-zoba. Ein klangvolles Etikett für einen extravaganten Modestil in Kinshasa, der gekonnt farbenprächtige, traditionelle Stoffe, Designermode aus zweiter Hand und gefälschte Markenkleidung aus Asien, die containerweise auf dem afrikanischen Markt landet, kombiniert. Als Ensemble ergeben das Eigene, das Edle und das Vorgefundene den individuellen Stil. Es ist eine spielerische Antwort auf den Irrwitz der globalen Textilproduktion – und ungeheuer glamourös.
 
Ähnlich funktioniert die Kinshasa Collection, ein Projekt des Goethe-Instituts, das kongolesische Mode mit europäischer Kulturpolitik und deutschem Filmemachen vernäht. Die „Kinshasa Collection“ präsentiert nicht nur die schrille Mode Kongos, sondern auch mit viel Selbstironie das vornehme Ansinnen der Kulturvermittlung, ein modernes Bild von Afrika zu schaffen: Im Mittelpunkt steht eine Web-Serie, gegen deren geschlossene Erzählung die kongolesischen Künstler in etlichen Pop-ups intervenieren.

Kinshasa Collection
Kinshasa Collection | Foto: © Catherine Trautes

Alle Grenzen des Krimi-Genres gesprengt

„Kizoba-zoba könnte auch mein Motto sein“, sagt die Autorin und Filmemacherin Merle Kröger, die das Projekt mitgestaltet hat. Sie sitzt in einem Lokal in Berlin-Kreuzberg und weiß wieder einmal nicht, wo ihr Kopf steht, weil sie hundert Sachen gleichzeitig abschließen soll: Texte schreiben, Übersetzungen redigieren, Reisen planen, Film schneiden. Ihrem zurückhaltend freundlichen Wesen tut die Pflichtenanhäufung keinen Abbruch.
 
Seit jeher verbindet Kröger Eigenes und Fremdes, Neues und Vorgefundenes zu einem eigenwilligen Werk. Mit ihrem Partner, dem Regisseur Philip Scheffner, dreht sie Dokumentarfilme. Als Autorin verarbeitet sie den jeweiligen Stoff zu Romanen, die zu den innovativsten der Gegenwart gehören: Ihre feministischen Kriminalromane sprengen in ihrer offenen Form alle Grenzen des Genres. Sie sind nicht vom Plot getrieben, sondern von einem realistischen Zugriff auf unsere Welt und einem Faible für Bollywood.

Ausgezeichnet mit dem Deutschen Krimipreis

Bekannt geworden ist die 1967 im norddeutschen Plön geborene Kröger mit ihren Büchern um die Heldin Mattie Junghans, die keine besonders strenge Regie über das eigene Leben führt. Sie ermittelt aus Idealismus, politischer Notwendigkeit oder aus unerschütterlicher Sympathie für die Bedrängten dieser Welt. Ihre Nachforschungen führen sie von der Ostsee nach Rumänien und über Indien zurück nach Berlin. Unterlegt sind die Werke stets mit einem einprägsamen Soundtrack: In den norddeutschen Rapsfeldern surren die Windräder und an den tristesten Rändern Europas tönen die bunten Popsong Indiens.
 
Für ihren Roman Grenzfall erhielt Kröger 2013 den Deutschen Krimipreis. Er basiert auf einem realen Ereignis, das Kröger und Scheffner für die Dokumentation Revision recherchierten: 1992 wurden in Mecklenburg-Vorpommern zwei Rumänen erschossen, Jäger wollen die beiden Flüchtlinge für Wild gehalten haben. Das Gericht sprach die Schützen frei. Die Behörden kamen nicht einmal auf die Idee, die Familien der Getöteten zu informieren, geschweige denn zu entschädigen. Um diese erschütternde Tatsache herum baut Kröger ihre Fiktion: 20 Jahre später gerät die Tochter eines der Opfer in Verdacht, aus Rache einen der beiden Täter getötet zu haben.

Flüchtlingsboot kollidiert mit Kreuzfahrtschiff

Noch mehr Furore machte Kröger mit Havarie, einem der aufregendsten und wichtigsten Romane der vergangenen Jahre. Er erschien 2015, wenige Monate vor dem Eintreffen Zehntausender Flüchtlinge in Deutschland. Auch Havarie beruht auf einer wahren Begebenheit und auch zu diesem Roman gibt es einen Film. Im Buch jedenfalls trifft ein Kreuzfahrtschiff mit dem sinnträchtigen Namen „Spirit of Europe“ auf ein havariertes Schlauchboot, voll besetzt mit algerischen Migranten.
 
Der Roman ist kein Flüchtlingsdrama. Kröger führt in einem schicksalhaften Moment eine Vielzahl von Lebenswegen zusammen. Sie wirft dabei in dichter Dramaturgie Schlaglichter auf Menschen, die sich in der Hoffnung auf ein besseres Leben übers Meer begeben: junge Algerier, die eine Öffnung in der Festung Europa suchen; einfache Europäer, die auf der Kreuzfahrt am Bingotisch die eigene Deklassierung vergessen wollen; die Arbeiter der Meere, die um ihren Rang in der Hierarchie der globalisierten Ökonomie streiten. Doch allen sind ihre Plätze längst zugewiesen: Sonnendeck, Maschinenraum, Schlauchboot.
 
Merle Kröger, die Norddeutsche mit dem indischen Vater, erweitert mit ihren Romanen den Horizont der Literatur und des eigenen Daseins. Sie blickt aufs Meer, über das Meer auf die Welt und von dort zurück auf das eigene Leben.
 

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