Ein Gespraech mit Merle Kroeger und Philip Scheffner
Wir schauen uns beim Zuschauen zu

Havarie © Merle Kröger
© Merle Kröger

Die Havarie/Collision Tournee führt die Autorin des mehrfach ausgezeichneten Buchs Merle Kröger und Philip Scheffner, der kürzlich den deutschen Filmkritiker Preis 2017erhielt,  durch die USA mit Lesungen, Filmvorführungen und Künstlergesprächen.

Merle and Philip, als Publikum kann man sich immer leicht als Voyeur empfinden. In Havarie ist man allerdings ein Voyeur, der auf sich selbst gestellt ist; es gibt kein vermittelndes Narrativ. Dann zieht sich aber das Voyeuristische zureck und das Beobachtende schwillt. Wohin soll diese Spannung zwischen Voyeur und Beobachter das Publikum lenken? 

Philip: In einen filmischen Raum, in dem die extreme, im Bildmaterial eingeschriebene Blickhierarchie zu flirren beginnt und vielleicht für Momente eine Begegnung „auf Augenhöhe“ möglich wird – ohne zu verschleiern, dass diese Blickhierarchie existiert und wir als Betrachter Teil davon sind. Insofern führt der Film in einen utopischen Raum.

Merle: In erster Linie sind wir als Zuschauer*innen von Havarie Beobachter unserer selbst. Oder besser: Wir schauen uns beim Zuschauen zu. Das ist für mich weniger voyeuristisch als der extrem nahe Blick auf Menschen in Schlauchbooten, der ignoriert, dass diese Nähe in Wirklichkeit politisch nicht gewollt ist. Das Warten, die Ungeduld, das Abdriften der Gedanken - diese Gefühle geben sowohl die reale Situation dieser Begegnung zweier Schiffe als auch den Zustand unserer Gesellschaft ziemlich gut wieder, finde ich. Havarie bietet ein Reflektieren darüber im gemeinsamen Raum an.

Das „grenzenlose“ Meer als Fluchtroute an einem mit Koordinaten exakt verortbaren Punkt. Was passiert wird gefilmt, beobachtet und kommuniziert. Nur die Fluechtlinge bleiben namenlos – im Film. Im Buch ist das nicht so, hier werden Schicksale praesentiert – was das auf Absprache? Wie nahe kollaboriert Ihr?

Philip: Ich würde sagen der Film (und wie ich finde auch das Buch) präsentiert weniger Schicksale als vielmehr Fragmente von Biographien, die eben an genau diesem verortbaren Punkt im Meer aufeinander treffen. Im Film bleiben die realen Menschen auf dem kleinen Schlauchboot schemenhaft – wir haben mit den realen Menschen auf dem Schlauchboot nicht gesprochen. Wir haben nach ihnen gesucht, aber irgendwann die Suche aus unterschiedlichen Gründen abgebrochen. Wir haben mit anderen gesprochen, die wir während der Recherche getroffen haben und die ähnliches erlebt haben. Die in der Recherche gesammelten Stimmen überlagern sich und schaffen im Film eine Art Aether, einen Raum der Imagination – im Roman werden aus den gesammelten Stimmen fiktive Charaktere, die eine andere Ebene von Imagination entwickeln. Film und Buch haben unterschiedliche Möglichkeiten, die wir nach der gemeinsamen Recherche dann im jeweiligen Medium weiterverfolgen. Wir kollaborieren also sehr stark – obwohl ich glaube, dass ich weniger in die Bücher involviert bin als Merle in die Filme.

Merle: Mir geht es im Buch nicht darum, Schicksale zu präsentieren, sondern durch die multiperspektivische Kollision von biografischen    Fragmenten Schnittpunkte zu erzeugen, die in der politischen Setzung des "wir" und "ihr" oft untergehen: Die Land Art Skulptur des Künstlers Dani Karavan in der spanischen Grenzstadt Portbou, die an den Tod von Walter Benjamin erinnert, thematisiert das Schicksal der vielen Namenlosen, die das Mittelmeer auf der Flucht aus dem faschistischen Europa erreichten. Ich stelle solche Zusammenhänge her, das tut der Film auch, aber in einer viel kognitiveren und wie   ich finde auch ganzheitlicheren Weise. Der Text des Romans ist direkter, druckvoller, vielleicht plakativer - ich habe dieses Buch    mit einer großen Wut im Bauch geschrieben. 

Wasser – Reise – Kreuzfahrt – Fluechlinge? Ist das nicht eine seltsame und trotzdem vertraute Assoziation?

Philip: Hm…weiß nicht so recht was jetzt gemeint ist?

Merle: Das Meer ist ein liquider Raum, in den sich Reisende von allen Ufern begeben, und der sich per se einer Aneignung und Grenzziehung verweigert. Eigentlich also ein "Freiraum", der durch politische Entscheidungen an Land immer mehr eingeschränkt und mit Überwachungstechnologie kontrolliert wird, was letztlich Menschen in Schlauchboote zwingt, die auf dem Radar nicht zu erkennen sind. Die Kreuzfahrtschiffe wiederum simulieren einen sicheren, autarken Kosmos, gated communities der Meere für scheinbar Gelichgesinnte oder Gleichgestellte. Wir haben die Kreuzfahrt aber auch stark als Metapher für eine globalisierte, durchkapitalisierte, keinerlei     nationalen Arbeits- oder Verbraucherrechten verpflichtete Welt erlebt, die letztlich nichts als eine Shopping Mall ist, in der wir wohnen, leben und konsumieren. 

Nach dem ersten Paragraphen hatte mich Havarie bereits eingesogen. Ich begann schneller und schneller zu lesen und musste nach Luft schnappen. Das Buch ist strukturell so ganz anders als der Film, oder seht Ihr Parallelen?

Philip: Ich glaube hier sollte das Buch anfangen. 

Merle: Die Parallelen liegen natürlich zunächst in der gemeinsamen       Recherche, die Basis für jegliche formale Entscheidung. Sie bildet den Boden, aus dem Film und Text wachsen. Eine zweite Parallele ist die Zeitlichkeit der realen Begegnung und der Funkverkehr zwischen dem Cruise Liner und der spanischen Seenotrettung, der diese Spanne von 90 Minuten strukturiert. Dieser "Äther" spannt sich wie eine klangliche Kuppel über dem Boden auf und kontextualisiert das Geschehen. Im Inneren jedoch erlauben sich Film und Buch einen jeweils eigenen Erzählrhythmus: der Film in der Konzentration und das geradezu körperliche Erleben der Echtzeit, in der sich die Kuppel nach und nach mit den Stimmen der Reisenden füllt, und der Text mit einer Vielzahl von Erinnerungen, Anliegen, Dringlichkeiten, die quasi gegen diese Zeitlichkeit kämpfen, sich ihr entgegenwerfen. So erscheinen uns die 90 Minuten einmal brutal lang und einmal brutal kurz. Und beides ist gleichermaßen wahr.

Beide Arbeiten sind politische Arbeiten, die weit von agitprop entfernt sind und trotzdem eine eindeutige Agenda haben. Welche Bandbreite an Publikumsreaktion habt Ihr erfahren?

Philip: Faszination, Begeisterung, konzentrierte Stille, ungläubiges Staunen, Körperlichkeit, Vergleiche mit einer Drogenerfahrung, Ungeduld, Langeweile, Ablehnung.

Merle: Nicht-gehen-wollen (aus dem Kino, aus dem Buch) - ein großes Kompliment. Produktive, aber durchaus auch als unangenehm empfundene Verwirrung, das Gefühl, dass einem etwas vorenthalten wird. 

„Truth is stranger than fiction“ – trifft das auf Eure Arbeit zu?

Philip: Ich glaube „Fiktion“ ist ein integraler Bestandteil unserer Realitätserfahrung – für mich ist das nicht trennbar und der Versuch, da einen Gegensatz zwischen „Truth“ und „Fiktion“ zu konstruieren, hilft nicht weiter.

Merle: One person's truth is the next person's fiction - die klassische Trennung versuchen wir ja mit unserer Arbeit gerade aufzubrechen, denn wer wollte darüber entscheiden? Politischer Realismus wäre ein Begriff, der für mich viele multiperspektivische Fiktionen, das Poetische und das Abstrakte, das Experimentelle und die Improvisation mit einschließt und dennoch im Blick hat, was um uns herum geschieht.

Ihr arbeitet gemeinsam und individuell – koennt Ihr ueber Eure Arbeiten, die nicht in Kooperation entstanden sind, ein paar Saetze sagen?

Philip: Ich würde sagen: Es gibt eigentlich keine Arbeit, die nicht zumindest in enger Absprache miteinander entstanden ist.   

Merle: Unsere geistige Heimat sind die 1990er Jahre in Berlin-Mitte, in denen wir Teil verschiedener interdisziplinärer Gruppen und Kollektive waren und versucht haben, temporäre und künstlerische Utopien zu gestalten: sei es als Club, als Ausstellung, als Aktion im öffentlichen Raum, als Film oder Fernsehprogramm. Aus dieser Zeit stammt auch unsere Praxis, einen gemeinsamen Gedankenraum zu konstruieren, aus dem dann unterschiedliche Projekte, allein oder mit anderen, entstehen. Auf die Trennschärfe der individuellen Urheberschaft können wir im Zweifel dann auch gut verzichten. Aber wenn das Kind nun mal einen Namen braucht, bekommt es den. 

Und nun noch eine persoenliche Frage: Wenn Ihr ein Musikstueck jeden Tag fuer den Rest Eures Leben hoeren muesstet, was waere es?

Philip: Diese Frage macht mir Angst und ich werde sie deswegen nicht beantworten. Ich habe das Gefühl, wenn ich das aussprechen würde, wäre ich für immer in einem Raum gefangen in dem dieser eine Song gespielt würde…willkommen in der Hölle.

Merle: Den Gesang der Amsel an einem warmen Sommerabend? Könnten wir uns darauf einigen?


        
 

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