Victoria
Der ungeschnittene

Filmstill aus „Victoria", Regie: Sebastian Schipper, 2015
„Victoria", Regie: Sebastian Schipper, 2015 | Foto (Ausschnitt): © Monkeyboy

Es ist immer wieder großartig, wenn ein Film uns mit ungebremster Kreativität überrascht und damit unsere Erwartungen übertrifft. Genau auf diese Weise hat Victoria, Sebastian Schippers beeindruckend innovativer Mix aus Liebesgeschichte, spannendem Thriller und Charakterstudie ein internationales Publikum, Kritiker und Filmfestivals gleichermaßen begeistert.

Von Colin Covert

Die Machart des Werks ­­– gedreht wurde in Berlin in nur einer Einstellung in Echtzeit und an 22 Locations – schreibt die Regeln des Filmemachens neu. Der zwischen 4:30 und 6:48 Uhr morgens in den dunklen Straßen des Berliner Bezirks Mitte gedrehte Film kommt gänzliche ohne Schnitte und Nahtstellen aus, und die Bildeinstellungen werden weder von hereinragenden Mikrofonen noch von zufällig ins Bild laufenden Mitgliedern der insgesamt drei Teams, die die improvisierten Dialoge eingefangen haben, beeinträchtigt. Die nahtlose digitale Kamerafahrt gerät während der tempogeladenen Handlung nie ins Wanken.
 
Auch das authentische Spiel der Darsteller wirkt stets wie aus einem Guss. Laia Costa spielt Victoria, eine Spanierin in ihren Zwanzigern, die neu in der Stadt ist und in einem Late-Night-Rock’n’Roll-Club etwas erleben möchte. Dort trifft sie auf vier waschechte Berliner Typen, die genau wie sie selbst nur gebrochenes Englisch als Zweitsprache sprechen. Die Gang der Radaubrüder besteht aus dem charmant flirtenden Sonne (Frederick Lau), seinem besten Freund, einem gerade aus dem Knast entlassenen Skinhead namens Boxer (Franz Rogowski) sowie ihrem schnell in Panik geratenden türkischen Freund Blinker (Burak Yigit) und dem stockbetrunkenen Fuß (Max Mauff).
 
Als einer von Boxers kriminellen Kollegen die Jungs beauftragt, noch vor Sonnenaufgang eine große Summe Geld bei einer Bank abzuheben, und Fuß als Fahrer nicht in Frage kommt, wittert Victoria die Chance, auf einen Schlag ihrem eintönigen Leben zu entkommen. Die Kamera verfolgt die Outlaws dabei, wie sie sich über stroboskopbeleuchtete Tanzflächen, auf Fahrrädern, in Aufzügen, Lieferwagen und über Häuserdächer ihren Weg bahnen und schließlich alles in ein fulminantes Finale aus Fehltritten und (teilweise tödlichen) Katastrophen mündet.
 
Victoria ist der vierte Spielfilm von Sebastian Schipper, der bereits seit 20 Jahren schauspielert und sogar schon eine kleine Rolle in Tom Tykwers ähnlich atemlosem Film Lola rennt hatte. Nachdem er 1999 die Komödie Absolute Giganten und danach zwei von der Kritik verschmähte Dramen gedreht hatte, musste er nun in der Filmwelt mit etwas gänzlich Neuem aufwarten. Gleich einem Houdini, der sich in einer verschlossenen Kiste ins Meer werfen lässt, um zu beweisen, dass er sich daraus befreien kann, ist ihm dabei ein echtes Kunststück gelungen. Schipper präsentiert uns ein modernes Bonnie und Clyde-Drama, bei der er die zwischen Romantik und Räuberei angelegte Geschichte gleich einem Kriegsfotografen in einer einzigen Kameraeinstellung einfängt. „Es geht nicht darum, dem Film eine makellose Verpackung zu verpassen“, erklärte er der britischen Zeitung The Independent. „Der Zuschauer folgt einer Handlung, die wie ein Schneeball ins Rollen kommt, und kann weder glauben, was gerade passiert, noch mag er sich vorstellen, was wohl als Nächstes kommt. Man wird von dem Geschehen einfach komplett gefangen genommen.“
 
Das Prinzip der einmaligen Kamerafahrt ist nicht neu (sogar die ersten Filme der Kinogeschichte wurden in nur einem einzigen Take gedreht), allerdings findet man diese Machart heute nur noch äußert selten. Obwohl man beim Zelluloid-film immer nur zehn Minuten am Stück filmen konnte, versteckte schon Alfred Hitchcock in seinem Thriller Cocktail für eine Leiche aus dem Jahr 1948 die Schnittstellen, sodass alles wie eine einzige Aufnahme wirkte. Diese Technik ist allerdings erst wieder zum Leben erwacht, als in den späten 90er-Jahren digitale Kameras die analogen Aufnahmen ablösten. So wurde etwa im Jahr 2002 der Film Russian Ark – Eine einzigartige Zeitreise durch die Eremitage mit 2000 Statisten, drei Orchestern und in 33 Räumen in der Eremitage in Sankt Petersburg gedreht und liefert damit eine ununterbrochene filmische Reise durch drei Jahrhunderte Kunst und Geschichte.
 
Schipper hat sich allerdings weder Russian Ark noch Cocktail für eine Leiche angeschaut, um sich davon inspirieren zu lassen. Der Kameramann Sturla Brandth Grøvlen hat einfach die Protagonisten auf ihrer Odyssee durch die Nacht verfolgt, manchmal aus der Ferne, manchmal aus der Nähe, und auch Schipper war immer dabei. „Manchmal wollte ich gar nicht, dass die Schauspieler mich bemerken, ein anderes Mal schon“, erzählte er der Financial Times. „Ich war dabei so etwas wie der Coach an der Seitenlinie.“ Das Ensemble brauchte dabei nur wenig Anleitung. Schipper hatte den Schauspielern lediglich eine zwölfseitige Zusammenfassung der Handlung ohne Dialoge in die Hand gedrückt – jedes gesprochene Wort wurde an Ort und Stelle improvisiert.

An anderer Stelle hatte Schipper dagegen alles detailliert geplant. In einer Figurenbeschreibung steht etwa, dass Victoria auf dem Klavier einen der „Mephisto-Walzer“ von Liszt spielen soll. Während sie dies tut, erzählt sie Sonne davon, wie sie ihr Musikstipendium verloren hat, das ihr erklärtes Lebensziel war. Schipper, Sohn einer Organistin, die ihn nach Bach benannt hat, hat das Klavierspiel eines weiteren Musikers darübergelegt und so Klänge aus dem Teufelstanz mit ihrem Spiel verblendet, was ihre immer klarer werdende Erkenntnis verdeutlicht, dass sie nur wenig zu verlieren hat.

Victoria ist kein experimenteller Vorzeigefilm, sondern zieht uns mit seiner schwer verdaulichen Technik unmittelbar ins Geschehen hinein. Den Film in nur einer einzigen Einstellung gedreht zu haben, funktioniert noch viel besser als gedacht. Die atemlose Handlung ist zunächst wie ein den Berg hinunterrollender Schneeball, der alsbald zur Lawine wird und schließlich in einem Erdrutsch endet.
 

autor

Colin Covert
© Colin Covert
Der Kolumnist Colin Covert schreibt seit 30 Jahren für die in Minnesota ansässige Star Tribune, für die er bereits Interviews mit Größen wie Woody Allen oder Wim Wenders geführt hat. Covert, der auf der Fan-Seite Rotten Tomatoes zu den „Top-Kritikern” zählt, wurde schon einmal als „Amerikas schärfster Kritiker“ bezeichnet. Für ihn gibt es nichts Aufregenderes als den Moment, wenn im Kinosaal die Lichter gedimmt werden – abgesehen von dem Moment, in dem sie wieder angehen. 

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