Übersetzung und Klang
Überlegungen im Umfeld einer Erfahrung

Pablo Gianera
Pablo Gianera | Copyright: Pablo Gianera

Aus Anlass einer vom Goethe-Institut Buenos Aires veranstalteten internationalen Begegnung zu Fragen der literarischen Übersetzung reflektiert der Essayist und Übersetzer Pablo Gianera über Ähnlichkeiten zwischen zwei dem Anschein nach ganz verschiedenen Gebieten: dem Schreiben über Musik und dem Übersetzen. Von Pablo Gianera

Der an Pammachius gerichtete Brief des Heiligen Hieronymus aus dem Jahre 395 ist berühmt. Hieronymus verteidigt sich darin gegen die Anschuldigungen Rufins, einen Brief des Epiphanes an Bischof Johannes in mangelhafter Weise übersetzt zu haben. Die Verteidigung enthält eine Definition, ein Glaubensbekenntnis der Übersetzung, das wohl keinem Übersetzer fremd ist:

Ego enim non solum fateor, sed libera uoce profiteor me in interpretatione Graecorum absque scripturis sanctis, ubi et uerborum ordo mysterium est, non uerbum e uerbo sed sensum exprimere de sensu...

Zunächst einmal wird offensichtlich, dass Hieronymus’ Definition des Übersetzens uns schon vor Übersetzungsprobleme stellt. Eine deutsche Version lautet:

Ich gestehe und bekenne mit allem Freimut, daß ich bei der Übersetzung griechischer Texte, abgesehen von den heiligen Schriften, wo selbst die Anordnung der Worte ein Geheimnis ist, nicht Wort für Wort, sondern sinngemäß übertrage.

Aber das Wort “Sinn”, auf welches “sinngemäß” zurückgeht, erweist sich als unzureichend. Es hat nicht die ganze Reichweite von sensus, das auch die Übertragung als “Idee” zuließe (wie sie bei Übersetzungen in andere Sprachen tatsächlich vorkommt). Ich würde mir die Freiheit nehmen, mich – vielleicht nicht ohne Übertreibung – für “Erfahrung” zu entscheiden, und gestatten Sie mir, bei diesem zu Wort bleiben. Das lateinisch-französische Wörterbuch von Gaffiot, indem es das Wort sensus näher an “Empfindung” (den Vorgang, etwas zu empfinden, wahrzunehmen, zu bemerken) rückt als an “Bedeutung”. Hieronymus würde somit nicht ein Wort mit einem Wort übertragen, sondern eine Erfahrung mit einer Erfahrung.

Ich werde diesen Begriff nun verwenden, um kurz auf zwei meiner Arbeitsgebiete einzugehen: Das Schreiben über Musik, sei es in Form der Kritik oder des Essays, und das Übersetzen.

Unterschiedlicher könnten die beiden Aufgaben auf den ersten Blick nicht sein. Sprachliche Einheiten haben eine mehr oder minder stabile lexikalische Bedeutung, die das Abenteuer der Übersetzung von einer Sprache in die andere erlaubt. Sprache kann sich selbst interpretieren, Musik hingegen bedarf, wie der Musikwissenschaftler Kofi Agawu bemerkt hat, der Sprache, um interpretiert zu werden. Von einer “musikalischen Sprache” zu reden hieße, sich auf das Terrain der Metapher zu begeben. Die Musiksemiotik hat uns gelehrt, dass es keinen sprachlichen Akt gibt, der den musikalischen ersetzen könnte. (Um diesen Punkt ausführlicher zu behandeln, müsste ich weiter ausholen, aber das würde uns etwas von unserem Thema wegführen.)

Dennoch glaube ich, dass man beim Schreiben über Musik auch eine Art Übersetzung betreibt. In diesem Falle gibt es allerdings keine Identität zwischen dem zu Übersetzenden und dem Ergebnis der Übersetzung. Bei der Musik handelt es sich, wie die deutschen Frühromantiker dachten, um eine Sprache jenseits der Sprache. Aber gibt es die erwähnte Identität tatsächlich, wenn man von einer Sprache in die andere übersetzt? Übersetzen geht mit einer dreifachen Verfremdung einher: der Verfremdung der Ausgangssprache, die sich ihrer selbst in einer anderen entfremdet; der Verfremdung der Zielsprache, die etwas Fremdes “naturalisieren” muss; und im Falle des Klangs schließlich einer Alchemie, die ihn erfassbar macht. Die Musik sagt uns etwas, aber wir können nicht sagen, was dieses Etwas ist. Man versteht es, und man versteht es nicht. Jener Leere des Vernehmbaren einen Sinn, eine Erfahrung zu entreißen, ist die Aufgabe des Schreibens über Musik.

Resonanzen

An dieser Stelle möchte ich eine kurze Anekdote erzählen: Um 1835 schrieb Robert Schumann einen kritischen Kommentar zu sechs der Lieder ohne Worte von Felix Mendelssohn, in dem er folgende Überlegung anstellt:

Wer hätte nicht einmal in der Dämmerungsstunde am Clavier gesessen (ein Flügel scheint schon zu hoftonmäßig) und mitten im Phantasiren sich unbewußt eine leise Melodie dazu gesungen? Kann man nun zufällig die Begleitung mit der Melodie in den Händen allein verbinden, und ist man hauptsächlich ein Mendelssohn, so entstehen daraus die schönsten Lieder ohne Worte. Leichter hätte man es noch, wenn man geradezu Texte componirte, die Worte wegstriche und so der Welt übergäbe, aber dann ist es nicht das rechte, sondern sogar eine Art Betrug, – man müßte denn damit eine Probe der musikalischen Gefühlsdeutlichkeit anstellen wollen und den Dichter, dessen Worte man verschwiege, veranlassen, der Composition seines Liedes einen neuen Text unterzulegen. Träfe er im letzten Falle mit dem alten zusammen, so wäre dies ein Beweis mehr für die Sicherheit des musikalischen Ausdruckes.

Es ist eine eigentümliche, etwas phantastisch anmutende Spekulation: Eine Komposition, die von einem Gedicht ausgeht, dessen Worte man „wegstriche“, könnte ein anderes hervorbringen, das mit dem ersten zusammenfällt. Schumann vertraut auf eine poetische Vereinigung der Künste. Doch nirgendwo heißt es ausdrücklich, dass diese Vereinigung wortwörtlich zu verstehen wäre. Da musikalische Einheiten keine lexikalischen Bedeutungen aufweisen, da das semantische Element der Musik, um es mit Carl Dahlhaus zu sagen, “eher intermittierend” ist, versteht es sich von selbst, dass wir Schumanns Satz nicht so auffassen können, als handele es sich um eine einfache Identität zwischen einem Lied ohne Worte und einem Lied mit Worten. Schumann geht es um etwas anderes. Die poetische Vereinigung der Künste ist nicht sprachlicher Art, sondern gründet sich auf Erfahrung: Zum einen gibt es das, was wir von einem Gegenstand verstehen (eine Form, das, was man “Wort für Wort” übersetzen kann), zum anderen ist da die Erfahrung eines solchen Gegenstands. Gegen das formal Verstandene nicht zu verstoßen führt zur Einbuße der Erfahrung. Die Erfahrung zu übersetzen hingegen lässt auch das vom Verstand Erfassbare zum Tragen kommen.

Wenn ich für mich sprechen darf: Wenn ich über eine Sonate von Schubert oder ein Stück von Helmut Lachenmann schreibe, wenn ich eine Zeile von Jack Kerouac oder eine Seite von Peter Altenberg übersetze, geht es mir um eine Resonanz, um die Wiedergabe einer Erfahrung spezifisch klanglicher Art.

Hier kann man Paul Ricœurs Büchlein Sur la traduction heranziehen: Im dritten Teil, „Un ‚passage‘: traduire l’intraduisible“ [Eine ‚Passage‘: Das Unübersetzbare übersetzen], kommt er nämlich auf das Problem des Sinns zu sprechen, der als etwas Immaterielles definiert wird, das im Buchstaben Gestalt gewinnt. Es ist letztlich dieser klangliche Aspekt, der den Sinn eröffnet, dieser Sinn ist somit eins mit dem Klang. Deshalb kann Ricœur sagen, dass Friedrich Hölderlin in seinen Übersetzungen Griechisch auf Deutsch spricht und Henri Meschonnic Hebräisch auf Französisch. Das Verweisende und das, worauf es verweist, sind nicht von einander zu trennen. Im sensus ist schon das verbum. Nur auf diese Weise, vermute ich, kann man dem Gegenstand (einem musikalischen Werk, einem Ausgangstext) gerecht werden, und in dem Maße, wie es gelingt, die Erfahrung des Gegenstands zu erfassen, wird die Erfahrung selbst eine objektive. Hieronymus‘ sensus gehört in die Ordnung der Erfahrung und schließt außerdem etwas Notwendiges ein. In unserer Arbeit werden wir von der Illusion einer Konfiguration beherrscht, die nur das sein kann, was sie ist.