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Sprechstunde – die Sprachkolumne
Von Restmülltonnen und gelben Säcken

Illustration: Person mit einer grünen Sprechblase, die ein Recyling-Symbol enthält
Deutschanfänger lernen die verschiedenen Müllsorten und die entsprechenden Behälter kennen | Illustration: Tobias Schrank; © Goethe-Institut e. V.

Wie wird deutsche Identität vor allem gestiftet? Genau: durch korrekte Mülltrennung. Als Dozentin für Deutsch als Fremdsprache brachte Christiane Rösinger den Lernenden die Geheimnisse der Müllsorten und ihrer Behälter bei. Denn: Nur wer richtig trennt, ist richtig integriert.

Von Christiane Rösinger

Wenn in späteren Zeiten die Menschen einmal verstehen wollen, was den Deutschen in den ersten Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts wichtig war, wie sie sich und ihre Kultur definiert haben, was damals als „Deutsch“ galt, also was Charakter, Geist, die Seele der Deutschen ausmachte, der wird schnell auf die Mülltrennung als identitätsstiftendes Streben der Deutschen kommen.

Seligmachende Obsession

Denn bei Ausgrabungen werden die Altertumsforscher der Zukunft unweigerlich auf viele „Deutsch als Zweitsprache“-Lehrwerke stoßen, die etwa ab 2015 während der sogenannten „Ersten Flüchtlingskrise“ große Verbreitung fanden und den Schulbuchverlagen einen Aufschwung bescherten. Die Historikerinnen der Zukunft werden die Lehrwerke analysieren und unweigerlich zu dem Schluss kommen: Die Mülltrennung war in diesen Zeiten das höchste nationale Gut der Deutschen, ihre größte Seligkeit.

Als ich 2016 anfing, als Dozentin für Deutsch als Fremdsprache zu unterrichten, sollte ich mit diesen Lehrwerken arbeiten und stellte bald fest: Man ist darin besessen vom deutschen System der Mülltrennung. In vielen Büchern wird im Kapitel „Leben in Deutschland“ hauptsächlich die Pflicht zur Mülltrennung thematisiert. Die Deutschanfänger lernen die verschiedenen Müllsorten und die entsprechenden Behälter kennen. Sie erfahren, dass in einem Wertstoffzentrum kostenlos defekte Elektrogeräte, Batterien oder Sperrmüll abgeben werden können.

Mülltrennend durch den Alltag

Folgende Redewendungen werden eingeführt:
  • Das kommt in den Biomüll / in den Restmüll / ins Altpapier / in den Gelben Sack.
  • Die Medikamente sind abgelaufen.
  • Die Müllabfuhr kommt.
  • Wir müssen die Restmülltonne rausstellen.
Bis heute sollen die Kursteilnehmenden in der mündlichen Prüfung über das System der Mülltrennung in ihren Herkunftsländern sprechen und es mit dem deutschen System vergleichen.

Die Chefgrafikerinnen der Lehrwerke für Integrationskurse müssen in ihrer Jugend große Fans der Bravo-Foto-Lovestory gewesen sein. So trifft in der Fotogeschichte zur Einführung ins Thema Mülltrennung das gutherzige südamerikanische Au-Pair-Mädchen im Hinterhof auf den gutmütigen Hausmeister, der ihr die kleinen Fehler bei der Mülltrennung großzügig verzeiht und der jungen Frau gerne die Sache mit der Mülltrennung in Deutschland noch einmal genau erklärt.

Auch im Intensivtrainingsheft zum Lehrbuch hat man sich etwas Lustiges einfallen lassen: der sprechende Mülleimer. Eine Lesegeschichte über Berliner Mülleimer, die „danke“ sagen. Danach soll diskutiert werden.

Getrennter Müll – geglückte Integration

Wie lässt sich diese affektbesetzte Liebe zur Mülltrennung der Deutschen erklären? Es kann nicht nur die pure Liebe zur Umwelt, zum deutschen Wald, zur Schöpfung sein. Wohl eher geht es um Regulierungsfreude, um deutsche Gründlichkeit, um die Freude am Belehren und Rechthaben, die Lust, sich an Regeln zu halten und die Lust an der Disziplinierung anderer. Deshalb heißt der erste Lehrsatz für die Neubürger: Sich integrieren heißt Müll trennen.

Vielleicht hat die Übererfüllung des Mülltrennungsaufklärungsgebots auch einen Grund darin, dass sich an der nicht korrekten Mülltrennung in Mietshäusern häufig Streit entzündet. In einigen Städten gibt es deshalb entsprechende Handzettel. Sie leisten „Hilfe zur korrekten Mülltrennung“ in neun Sprachen. Da die meisten Geflüchteten aber jahrelang auf eine Wohnung warten müssen, werden sie diese Zettel vorerst nicht erhalten und auch den Müll nicht trennen können. Aber eines fernen Tages, wenn mit sehr viel Glück der Asylantrag positiv beschieden wurde und sie eine eigene Wohnung gefunden haben, stehen sie vor diesen Mülleimern. Und dann können sie ihre Kenntnisse endlich anwenden und beweisen, wie gut sie sich integriert haben.

Sprechstunde – die Sprachkolumne

In unserer Kolumne „Sprechstunde“ widmen wir uns alle zwei Wochen der Sprache – als kulturelles und gesellschaftliches Phänomen. Wie entwickelt sich Sprache, welche Haltung haben Autor*innen zu „ihrer“ Sprache, wie prägt Sprache eine Gesellschaft? – Wechselnde Kolumnist*innen, Menschen mit beruflichem oder anderweitigem Bezug zur Sprache, verfolgen jeweils für sechs aufeinanderfolgende Ausgaben ihr persönliches Thema.

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