Von María Paula Laguna
Tlatelolco nimmt einen wichtigen Platz im urbanen und historischen Gedächtnis von Mexiko-Stadt ein. Dieses Stadtviertel im Zentrum der Hauptstadt ist bereits mehrfach zum Schauplatz grundlegender Ereignisse und Veränderungen in der Geschichte des Landes geworden. Symbolträchtig ist besonders der großflächige Plaza de las Tres Culturas („Platz der Drei Kulturen“), an dem die prähispanische und koloniale Vergangenheit auf das moderne Mexiko trifft. Auf der Touristenattraktion liegt allerdings auch der Schatten einer schändlichen Tat, denn am 2. Oktober 1968 wurden an eben diesem Ort friedlich demonstrierende Studierende und Arbeiter*innen vom Militär angegriffen und getötet.
Was an jenem Abend und an allen weiteren Tagen dort passierte, geschah direkt unter den Augen der Bewohner*innen des Wohnviertels Nonoalco-Tlatelolco, einem ambitionierten und modernistischen Bauprojekt mit Hunderten von Wohnhäusern auf einer Fläche von etwa 964.000 Quadratmetern. Als es 1964 eingeweiht wurde, wirkte es wie ein Versprechen an die Zukunft: eine Stadt innerhalb der Stadt, mit Schulen, Bürogebäuden, Krankenhäusern, Einkaufspassagen, Theatern, Sportplätzen, Kinos und einer eigenen U-Bahn-Station. Das Massaker von 1968 wirkte wie ein böses Erwachen aus diesem Traum. Doch erst das Erdbeben von 1985 ließ Tlatelolco zum Alptraum werden.
Tlatelolco 1985: Beben und Auferstehung
Die Gegend, in der sich die Wandmalerei befindet, scheint sich seitdem nicht sehr verändert zu haben. Doch der Zahn der Zeit hat an ihr genagt. Der Spielplatz davor ist gealtert: eine kaputte Schaukel, ein verrostetes Gerüst, ein zerplatzter Reifen. Im Hintergrund zerfällt Tlatelolco 1985: Sismo y resurrección allmählich in seine Einzelteile. An manchen Stellen ist die Farbe bereits soweit abgebröckelt, dass es dem Betrachter schon bald praktisch unmöglich sein wird, die geometrischen Figuren zu entziffern, die Puente einst auf die Zentrale del Telefongesellschaft Telmex gemalt hat.Tlatelolco 1985: Sismo y resurrección ist Teil einer Serie von Wandmalereien, die der Künstler aus Tamaulipas Ende der Neunzigerjahre in Tlatelolco anbrachte. Alle sind sie etwa 30 Meter hoch und sollten nicht nur dem Zweck dienen, die städtische Umgebung zu verschönern, sondern darüber hinaus die lokale Gemeinschaft stärken. Eine Reihe von Freiwilligen, größtenteils aus der direkten Nachbarschaft, halfen Puente bei der Bemalung der Häuserfassaden. Sie bestimmten die Thematik der Kunstwerke und stiegen auch selbst mit Eimer und Pinsel bewaffnet auf die Baugerüste. Aus diesem begeisterten Trüppchen entwickelte sich das Red Urbana de Muralismo Comunitario („Urbanes Netzwerk für gemeinschaftlichen Muralismus“), wodurch Puentes Anhänger seine Arbeit fortsetzen wollten.
In der Projektbeschreibung waren ursprünglich zehn Wandmalereien vorgesehen. Letztendlich konnten allerdings nur vier davon fertiggestellt werden. Zwei weitere blieben nach dem Tod des Künstlers im Jahr 2005 unvollendet. Die Organisation hat bereits mehrere Versuche gestartet, auf die notwendige Restauration der Kunstwerke aufmerksam zu machen, bislang ohne Erfolg. Die Malereien sind so weit in Vergessen geraten, dass sie erst dann wieder Beachtung fanden, als 2019 am Gebäude General Anaya Bauarbeiten durchgeführt wurden und das Mural mit dem Titel Tlatelolco, héroe y mártir de las libertades („Tlatelolco, Held und Märtyrer der Freiheiten“) von einem Tag auf den anderen einfach verschwand.
Auch wenn diese Arbeiten im strikten Sinne nicht immer als Street Art gewertet werden, dient Puentes Absicht der „Erschaffung eines gemeinschaftlichen Kulturerbe“ noch heute unzähligen Künstlern der Gegenwart als Vorbild und Inspiration. Es überrascht daher wenig, dass sich einige von ihnen als „Muralistas 2.0“ bezeichnen und damit direkten Bezug auf die Bewegung des Muralismo zu Anfang des 20. Jahrhunderts nehmen. Ihre Vorstellung von Kunst ähnelt der, die schon Puente und andere Künstler aus vorhergegangen Generationen hegten: urbane Schöpfungen ergeben erst dann einen Sinn, wenn sie gemeinsam mit anderen erlebt und geteilt werden können.